Serie zur Sozialenzyklika "Fratelli tutti" | Teil 04
Eine offene Welt schaffen

Einer Lösung der Ursachen des Terrors kommen wir nur näher mit der Offenheit einer wagenden Liebe, im Setzen auf den „Weg der Solidarität, der Gemeinschaft und Rücksichtnahme“, sagte Kardinal Schönborn nach dem Terroranschlag in Wien. | Foto: Vatican News
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  • Einer Lösung der Ursachen des Terrors kommen wir nur näher mit der Offenheit einer wagenden Liebe, im Setzen auf den „Weg der Solidarität, der Gemeinschaft und Rücksichtnahme“, sagte Kardinal Schönborn nach dem Terroranschlag in Wien.
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Im dritten Kapitel der Enzyklika erinnert Papst Franziskus daran, dass Liebe Offenheit bedeutet.

Den Vorwurf „Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht!“ kann man hören, wenn der Ruf nach Offenheit ertönt. Vorbehaltloses Offensein wird ja nur zu leicht bestraft. Der Mensch, der in sich ruht, der gelassene Mensch, der von anderen lässt, ist dagegen ein erstrebenswertes Ziel. Ist es da nicht fehl am Platz, eine offene Welt zu denken, geschweige denn zu schaffen? Das gilt offenbar für viele, wenn wir uns die heutigen Abschließungstendenzen vor Augen halten. Dem tritt der Papst entgegen, im Ausgang von der Liebe, die Offenheit bedeutet, eine Offenheit, die nicht nur für den, der der Adressat dieser Liebe ist, Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet, sondern auch dem, der sie übt. Der Mensch ist also ein sich überschreitendes Wesen, das in diesem Überschreiten zu sich findet. „Nur in der Begegnung mit dem anderen vermag er seine eigene Wahrheit vollständig zu erkennen“. (87)
Der Christ ist ja nach Martin Luther ein Wesen, das außerhalb seiner selbst steht, und zwar in der Liebe: in der Nächstenliebe im Nächsten und in der Gottesliebe in Gott. Er ist ein Mensch „in Ekstase“, wie Franziskus sagt. Das bedeutet nun nicht, „neben seinen Schuhen zu stehen“, wie es im Volksmund heißt, sondern wirklich bei sich zu sein, weil ich dadurch, dass ich dem anderen Perspektiven eröffne, auch mich selbst finden kann.

Begrenzungen öffnen
In einer Zeit des „Mein Wille geschehe“ sind Verengungen auszumachen, die auch anzutreffen sind in Formen des Hinausgehens über sich, in denen man aber bei sich, seiner Familie, seiner Gruppe, seiner Nation bleibt. Nur bei seinesgleichen zu verweilen, bei denen, die mit anderer Meinung und anderen Lebensformen, mit Kritik nichts zu tun haben wollen, stellt einen noch problematischeren Verschluss dar, weil er Gesellschaft spaltet. Diese Spaltung kann durch eine verengende Sicht des Privateigentums, die der sozialen Verpflichtung widerspricht, die auf dem Eigentum liegt, verstärkt werden – und wird es. Auch wenn es in manchen Punkten gefährlich ist, aus sich herauszugehen und offen für den anderen und andere Gruppen oder Völker zu sein, dieses Wagnis der Liebe gilt es zu unserer und der Entwicklung aller einzugehen. Dabei genügt es nicht, im Zeichen der Oberflächlichkeit einen „falschen Universalismus“ solcher Menschen, „die ständig verreisen müssen, weil sie ihr eigenes Volk nicht ertragen und lieben“ (99), an den Tag zu legen.

Liebe gegen Hass
Wir brauchen die Offenheit gerade auch in Zeiten des Missbrauchs dieser Offenheit. Diese muss aber ihren Einordnungsrahmen finden in der Dichtheit der Liebe, die „das moralisch Gute“ fördert, eine Ordnung, die der Papst einfordert. „Unseren Hass bekommt ihr nicht!“ Mit dieser Erinnerung an die Worte eines Betroffenen der Terroranschläge in Paris wies Kardinal Schönborn den Hass als Reaktion auf den Terroranschlag in Wien zurück. Einer Lösung der Ursachen des Terrors kommen wir nur näher mit der Offenheit einer wagenden Liebe, im Setzen auf den „Weg der Solidarität, der Gemeinschaft und Rücksichtnahme“, wie der Kardinal sagte. Ist nicht das der Weg der sich und andere öffnenden Liebe?

 Aus der Enzyklika zitiert:

87.
Ein Mensch kann sich nur entwickeln, sich verwirklichen und Erfüllung finden in „der aufrichtigen Hingabe seiner selbst“. Nur in der Begegnung mit dem anderen vermag er seine eigene Wahrheit vollständig zu erkennen: „Ich kommuniziere nicht wirklich mit mir selbst, wenn nicht in dem Maße, wie ich mit dem anderen kommuniziere.“

97.
Es gibt Peripherien ganz in unserer Nähe, im Zentrum einer Stadt oder in der eigenen Familie. Es gibt auch einen Aspekt der universalen Offenheit der Liebe, der nicht geografischer, sondern existenzieller Natur ist. Gemeint ist die tägliche Fähigkeit, meine kleine Welt zu erweitern, diejenigen zu erreichen, die nicht unmittelbar mit meinen Interessen zu tun haben, obwohl sie mir nahestehen.

127.
Hier geht es zweifellos um eine andere Logik. Wenn man sich nicht bemüht, in diese Logik einzusteigen, werden meine Worte sich nach Phantasien anhören. Aber wenn man als grundlegendes Rechtsprinzip akzeptiert, dass diese Rechte aus der bloßen Tatsache des Besitzes einer unveräußerlichen Menschenwürde hervorgehen, kann man die Herausforderung annehmen, von einer anderen Menschheit zu träumen und über eine solche nachzudenken. Es ist möglich, einen Planeten zu wünschen, der allen Menschen Land, Heimat und Arbeit bietet.

Der Grazer Sozialethiker Dr. Leopold Neuhold analysiert für das Sonntagsblatt die Grundlinien der soeben erschienenen Sozialenzyklika von Papst Franziskus.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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