12. Sonntag im Jahreskreis | 25. Juni 2023
Meditation

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Meine Art zu lieben

Mit diesem Brief möchte ich gern unsere heiße Diskussion fortsetzen, die uns beide neulich bei Euch gepackt hat.
Zunächst einmal mein Dankeschön, dass Du mit solcher Offenheit und Aufrichtigkeit geplatzt bist! Das hat Dich und mich befreit. Ich mag es gern, wenn man gewisse Dinge, die einem in der Kehle stecken, frank und frei heraussagt, um sich darüber auszusprechen – wenn, dann geschieht dies gewöhnlich wohl zu krass, was Du mir ja auch heftig vorgeworfen hast. Erlaube mir bitte, mich etwas zu erklären.

Meine Art zu lieben ist, anpruchsvoll zu sein, sehr anspruchsvoll sogar. Die Liebe mag als milde Schonung verstanden werden oder als strenge Forderung, und ich habe die letzte Art gewählt, den Anspruch gegenüber dem anderen. Für mich bedeutet jemanden lieben, ihn größer haben zu wollen, ihm dabei zu helfen, aus sich auszusteigen und über sich hinauszuwachsen. Liebe bedeutet für mich, den anderen auf besondere Weise zur Selbstüberwindung herauszufordern.

Weil ich Dich liebe, weil ich Euch alle liebe, weil ich Deine Cousins und Cousinen liebe, weil ich die alexandrinische Jugend liebe, deshalb richte ich ein unmögliches Ideal vor Euch auf. Doch lies diesen Spruch, den ich sehr mag: Nicht der Weg ist das Unmögliche, sondern das Unmögliche ist der Weg.

Eine Forderung des Unmöglichen kann als absurd gewertet werden, das Ziel ist unerreichbar, und so bleibt es eine Forderung großer Härte. Wenn man aber in diese Richtung schaut, dieses „unmögliche Ziel“ ernst nimmt und trotzdem mutig darauf zugeht, dann gibt es zumindest etwas zu ernten: Man wird innerlich auf diesem Weg wachsen! Ich würde euch betrügen, wenn ich Euch schmeicheln würde mit lauter süßem Gerede und wenn ich Euch dort stehen ließe, wo Ihr steht. Nein, ich will euch höher reißen, ich will Euch wachsen sehen, ich will Euch groß haben! Das ist halt meine Art, Euch zu lieben.

Henri Boulad
Ein Brief an eine Verwandte, aus: Dimensionen der Liebe. Persönliche Aufzeichnungen, Edition Tau, 1995.

Henri Boulad, SJ. (1931–2023) starb am 14. Juni in seinem Heimatland Ägypten. Der als Mystiker, aber auch wegen seiner islamkritischen Haltung bekannte Jesuit wurde als Sohn einer syrisch-italienischen Familie in der Hafenstadt Alexandria geboren. Boulad war lange Jahre Provinzial der Jesuiten in Ägypten und auch Präsident der dortigen Caritas.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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