Weltanschauungsarbeit heute | 06
Von der Selbstoptimierung zur Selbstentfaltung
Gedanken, die über die Fastenzeit hinausreichen.
Fasten im religiösen Sinn versteht sich als spiritueller Vorgang. Es geht um das Überschreiten der Schwelle der Selbstbezogenheit und Selbstverliebtheit hin zu den Menschen und den Aufgaben in der Welt. Der Aschermittwoch macht mit dem Ritual der Aschenauflegung unmissverständlich klar, dass wir selber nicht das Ziel unseres Lebens sind. Wird ja jedes Leben zunächst im Staub enden.
Heutzutage reiht sich Fasten allerdings vielfach ein in die unzähligen Angebote der Lifestyle-Industrie, die Gesundheit und Heil verspricht. Ernährung, Fitness, Schlaf, Sexualität – möglichst viele Parameter der Lebensführung sollen vermessen und verbessert werden. Perfektion wird zum Imperativ.
Diese sogenannte Selbstoptimierung hievt uns in einen Diskurs hinein, der deshalb kein harmloser ist, weil darin die Beharrlichkeit einer großen Selbstbezogenheit begegnet, die unbeirrt den eigenen Interessen folgt. In Zeiten multipler Krisen ist die Versuchung groß, sich ins private Glück zurückzuziehen. An die Stelle gesellschaftlichen Handelns und gemeinsamen Gestaltens ist die Investition in die eigene Einzigartigkeit gerückt. Selbstoptimierung und Solidarität sind keine Geschwister.
Einspruch muss erhoben werden, wenn die Vorstellung von einem guten Leben hineingepresst wird in eine vorgegebene Normierung. Wenn festgelegt wird, was als gesunder Mensch gilt und dafür bestimmte Aspekte des Lebens ausgeblendet und verleugnet werden. Als ob Glück und Heil Waren oder Dienstleistungen wären, die man sich mit dem richtigen Verhalten erwerben könnte. Leben ist allerdings so viel mehr. Die ganze Vielfalt menschlicher Erfahrungen gehört dazu. Auch die Frage nach dem Widersprüchlichen, nach dem, was sich nicht reimt. In der Akzeptanz, dass es im Leben das Abgründige, Unerreichbare und Unbegreifliche gibt, eröffnet sich erst das, was man mit dem Philosophen der Aufklärung, Immanuel Kant, als Freiheit beschreiben kann.
Der Gegenpol zu Selbstoptimierung ist jedoch nicht Passivität und Gleichgültigkeit, sondern mit dem Psychoanalytiker Erich Fromm gesprochen Selbstentfaltung. Diese zielt auf die Verwirklichung der eigenen Potenziale und Leidenschaften, ist aber keine rein private Angelegenheit. Selbstentfaltung braucht und sucht die zwischenmenschliche Verbundenheit. Sie realisiert sich wesentlich auch im Streben nach sozialer Gerechtigkeit und Wahrnehmen von Verantwortung für die Gemeinschaft.
Eva-Maria Melk-Schmolly
Eva-Maria Melk-Schmolly
ist Psychotherapeutin und Fachberaterin für Weltanschauungsfragen in der Diözese Feldkirch.
- Wo hat Selbstoptimierung ihren Ursprung?
In einer Logik, die mit dem etwas unscharfen Begriff Neoliberalismus gefasst werden kann. Wettbewerb und Eigenverantwortung als ursprünglich wirtschaftsliberale Fixsterne beeinflussen immer mehr auch politische Entscheidungen wie den Gesundheits- oder Sozialbereich. In diesem Denken wird der Mensch zum Unternehmer seines Lebens und ist für sein Glück selber verantwortlich.
- Warum betreiben Menschen diesen Kult, „die beste Version ihres Selbst“ zu werden?
Selbstoptimierung ist eine Möglichkeit, in einer sich rasant verändernden Welt zu bestehen. Das Problem besteht darin, dass sie unter dem Diktat von Steigerung, Konkurrenz und Selbstbezug steht. Für die wichtigste Aufgabe des 21. Jahrhunderts, dem Klimanotstand etwas entgegenzusetzen, brauchen wir aber Reduktion und Gemeinschaftssinn.
Referat bzw. Fachstelle für Weltanschauungsfragen
Jede Diözese verfügt über ein Referat bzw. eine Fachstelle für Weltanschauungsfragen. Diese Stellen bieten …
- … Orientierung in der Vielfalt religiöser Bewegungen
- und weltanschaulicher Strömungen;
- … persönliche Beratung und Hilfe für Menschen,
- die belastende Erfahrungen mit problematischen Gemeinschaften machen;
- … schriftliche Information zu unterschiedlichen
- Themenbereichen sowie Materialien für Bildungsarbeit und Unterricht.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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