1. Adventsonntag | 28. November 2021
Sie fühlt sich daheim

Foto:  iSTock/GarGe

Die anmutigsten Tiere der Wüste sind die Gazellen: Sie sind unseren Rehen ähnlich, doch graziler als diese, feingestaltig, lebhaft, scheu und sehr, sehr liebenswert. Nicht umsonst vergleicht das Hohelied der Liebe den Geliebten mit einer Gazelle. „Horch, mein Geliebter! Siehe, da kommt er, springt daher über die Berge, hüpft über die Hügel! Mein Geliebter gleicht einer Gazelle …“ (Hld 2,8).

Wir haben oft, sehr oft in den menschenleeren Gebieten der Sahara Gazellen angetroffen, dort, wo es ein wenig Wasser und Grün gibt. Werden sie durch ein Fahrzeug aufgescheucht, jagen sie wie ein Blitz fort, aber so, dass sie meist, anstatt sich abseits ins unwegsame Gebiet zu flüchten, vor dem Wagen auf der Piste herrennen. Offenbar ist es auch für sie angenehmer, auf den Wegspuren statt über unwegsames Gelände zu laufen. Das hat zur Folge, dass man oft minutenlang Gazellen aus nächster Nähe im 80- bis 100-km-Tempo vor sich dahinrasen sieht, bis sie sich dann doch mit einem verzweifelten Sprung nach rechts oder links der „Verfolgung“ entziehen … Aber auch ohne dass sie sich verfolgt fühlen, rasen diese feinfüßigen Tiere mit unglaublicher Geschwindigkeit daher, so als ob sie Freude an der Freiheit hätte, die ihnen der unbegrenzte Raum der Wüste gewährt. Ihre Heimat ist gleichsam die Freiheit, die die Weite des Ödlands eröffnet. So weisen die Gazellen darauf hin, dass die Wüste auch Ort der Freiheit ist. Die durch weit herumflitzende, nicht einzuholende Gazellen charakterisierte Grenzenlosigkeit der Wüste hält dem Menschen einen Spiegel seines tiefsten Wesens vor: seine Freiheit, seinen Drang, sich nicht in Grenzen und Schranken einschließen zu lassen, seinen Willen, sich nicht zu etablieren in der Enge eines bestimmten Milieus oder einer bestimmten Situation, weiterzugehen, die unbeschränkten Weiten auszuloten. Spiegel dessen ist nicht nur die Weite der Landschaft, sondern auch der unbeschreibliche Sternenhimmel über der Wüste. Das Schweigen und die unendliche Klarheit des Firmaments mit den unzähligen hellen Punkten, die die Grenzenlosigkeit des Raumes ahnen lassen, machen den Menschen seine Winzigkeit und Nichtigkeit fühlen. Aber zugleich fühlt sich die Seele in der Erfahrung des grenzenlosen Raumes gleichsam „daheim“, sie legt „all ihre innere Größe hinaus in das Gleichnis der Natur“ (A. Stifter).

Gisbert Greshake in: Die Wüste bestehen. Erlebnis und geistliche Erfahrung, Topos/Tyrolia

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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