21. Sonntag im Jahreskreis | 25. August 2024
Meditation

Foto: Daniele Daly/pixabay

Bereit zum Flug

Während Dom Hélder Câmara heute mit mir sprach, blickte ich ihn an. Wie viele andere bin ich von diesem so schlichten Menschen zutiefst beeindruckt. Es schien mir, als ob sein Körper auf Kosten seines Antlitzes und besonders seiner Augen, seines Mundes, seiner Ohren kleiner wurde, während seine Arme, seine Hände und all seine Glieder „in Bewegung“ waren. Wie immer klopfte er mir auf die Schulter, um jeden Satz und jedes Wort zu betonen. Dann erhob er die Hände, die Finger gespreizt wie große Vögel, die sich zum Flug bereiten – so zeichnete er ununterbrochen große Gebärden in den Raum.

Ja, Dom Hélder ist klein, aber stets ganz offen für alle Armen der Welt. Er ist von kleiner Gestalt, aber er füllt den Raum aus. Es gibt kaum einen größeren Menschen als diesen kleinen Mann. Ein Riese! Wie konnte er eine solche Größe erreichen? In seinem kleinen Arbeitszimmer eingesperrt, ist er dennoch im Nordosten Brasiliens gegenwärtig, das er liebt, und in Nordamerika sowie in Südamerika und in Europa ... Seine Stimme ertönt bis an die Enden der Erde. Er schenkt den Millionen und Millionen Armen das Vertrauen zurück. Er hebt sie empor. Er beunruhigt die Mächtigen …

Er schilderte mir dieses Volk, sein Elend, seine Leiden, seine Wünsche. Er erzählte mir, wie es sich von der Heiligen Schrift nährt, wie sich die Menschen unaufgefordert versammeln, sich zu
gemeinsamem Kampf organisieren, gegen Ungerechtigkeiten kämpfen, aber auch gemeinsam beten und die heilige Messe feiern.

Ich wollte gehen … Sein abracao nahm kein Ende. Es schien mir zu sagen: Ich nehme dich an, ich behalte dich bei mir, ich nehme dich mit. Du bleibst mir immer gegenwärtig. Und das ist wahr. Sooft ich – wenn auch nach langer Trennung – Dom Hélder wiedersah, war ich gerührt über seine Fragen: „Wie geht es dir? Konntest du ausführen, wovon du mir letztes Mal erzählt hast? Ist es dir gelungen?“ …
Wie ist es ihm möglich, der ganzen Welt und jedem Einzelnen nahe zu bleiben, als wäre jeder von uns der einzige Mensch auf Erden?

Michel Quoist über eine Begegnung mit Erzbischof Dom Hélder Câmara, der vor 25 Jahren, am 27. August 1999, starb.
Aus: Mit offenem Herzen, Styria 1982.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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