15. Sonntag im Jahreskreis | 14. Juli 2024
Meditation

Einer, der nach vielen Irrwegen sein Ziel erreicht: Odysseus und Penelope umarmen einander, Radierung von Theodoor van Thulden, 1633. Rijksmuseum Amsterdam. | Foto: PD/CC 1.0.
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Irrwege und Ziel

Vor Jahren habe ich zusammen mit zwei befreundeten Ehepaaren im walliserischen Grächen ein paar Urlaubstage verbracht. Für die Planung der Ausflüge war ich zuständig, weil ich im Kartenlesen nicht ganz ungeschickt bin. An einem herrlichen Sommertag hatte ich eine Wanderung auf die Honigalp vorgesehen. Der Vorschlag wurde begeistert aufgenommen. Honigalp! Schon die Bezeichnung klang vielversprechend.

Wir folgten immer schön der rotweißen Markierung. Irgendwann befanden wir uns über der Baumgrenze. Eine halbe Stunde später, es ging steil aufwärts, war im Geröll kaum mehr ein Gräslein zu sehen. Plötzlich sahen wir uns von dichten Nebelwolken umgeben; der Tag wurde beinahe zur Nacht. Was blieb uns anderes übrig als umzukehren. Eine der Frauen war nahe am Heulen: „Und ich hab mich doch so auf die Honigalp gefreut!“ – Beim Abstieg entdeckten wir den gelben Wegweiser, der auf eine Abzweigung aufmerksam machte, die ich übersehen hatte. Seither stecke ich die Wanderkarte nicht mehr in die Seitentasche des Rucksacks, sondern halte sie in der Hand.

Der Weg ist das Ziel. Sagen viele. Das tönt gut, aber trifft es auch zu? Unser Ziel damals war die Honigalp! Und die Vorstellungen, die wir mit diesem Namen verbanden.

Der Weg ist überhaupt nie das Ziel. Menschen, die sich zu einer Fahrt ins Blaue oder zu einem Spaziergang ins Grüne entschließen, denken nicht an den Weg, sondern haben anderes im Sinn. Sie möchten frische Luft atmen, sich erholen vom Alltagsstress, sich zerstreuen, etwas erleben, vielleicht bloß die Zeit totschlagen. Dass der Weg nicht das Ziel ist, zeigen auch die uralten Volksmärchen. Die sich da auf Fahrt begeben, verfolgen eine ganz bestimmte Absicht. Sie sind auf der Suche nach dem Wasser des Lebens, wollen eine Prinzessin erlösen, das Leben probieren oder das Fürchten lernen.

Bei aller Zielstrebigkeit aber machen die Reisenden häufig Umwege, geraten auf Abwege. Irrfahrten gehören offenbar zum Menschsein. Sich irren ist ein Menschenrecht. Dazu zählt freilich die Menschenpflicht, Fehlentscheidungen, die man erkannt hat, zu korrigieren.

Josef Imbach, Gott und die Welt. Bonifatius.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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