3. Sonntag im Jahreskreis | 23. Jänner 2022
Meditation

Foto: Gerd Altmann/Pixabay

Was wir in uns tragen

Es klingt banal, aber es ist wohl so: Jedes Leben ist eingebunden in ein anderes Leben, eingebunden in eine Familie, in einen Freundeskreis. Selbst der isolierteste Mitmensch ist Teil eines anderen Lebens, weil er sein Leben nie sich selbst verdankt.

Viele Ereignisse unseres Lebens sind dem Gedächtnis entglitten, wenige Ereignisse mögen noch in Erinnerung sein. Es sind die bewussten und unbewussten Erinnerungen in uns, die uns steuern. Ein Beispiel mag das deutlich machen: Treffen sich alte Freunde, so beginnt man zu erzählen. Man erzählt über gemeinsam verbrachte Zeit und tauscht Erinnerungen aus. Wie von selbst löst eine erzählte Erinnerung die Erinnerung an unzählige andere aus. Dinge und Personen unseres Lebens werden wieder lebendig, die schon fast begraben in unserem Inneren waren. Persönliche Begegnungen mit Menschen, die uns früher einmal etwas bedeutet haben oder die nun neu in unser Leben eintreten, werden zum Schlüsselereignis. Im wahren Sinn des Wortes schließen sie in uns etwas auf, erschließen uns unsere eigene Vergangenheit.

Im Licht solcher Ereignisse versteht der Mensch sein ganzes Leben oder einen bestimmten Lebensabschnitt. Worte werden zu Deuteworten, Ereignisse zu Deuteereignissen. Da sind Menschen eine Wegstrecke mit uns gegangen, da waren Freunde in schweren Stunden zur Seite, da gab es Ereignisse und Umstände, die uns unauslöschlich prägen … Da waren aber auch Personen und Ereignisse, die unser Leben beschwert haben oder denen wir das Leben beschwert haben. Aus solcher Erfahrung wachsen Fragen, Fragen nach dem rechten Weg und nach der Weggestaltung. Was ist noch zu tun? Die Frage der Zukunft unseres Lebens wird urplötzlich beantwortet aus der Erfahrung der Vergangenheit. Die Erinnerung an das Frühere birgt eine Kraft, das Heute zu ordnen. Sich dem Vergangenen stellen bedeutet, das Heutige zu bestehen, um den nächsten Schritt zu setzen …

In der Erinnerung will der Mensch etwas lebendig halten. Es ist nicht das Erinnern an einen verlorenen Gegenstand, sondern es ist das Bewusstwerden von etwas, was er in sich trägt, das er aber nicht mehr zur Verfügung glaubte. Sich erinnern und aus der Erfahrung lebendig werden bedeutet, die Vergangenheit nicht zu verdrängen. Wer seine Vergangenheit findet, die Kreuzungen und Knoten ausmacht, die Menschen und Ereignisse, ist auf der Spur zu sich selbst. Diese Spur ist nicht unberührt; andere sind mit in dieser Spur gegangen und haben den Weg gekreuzt. Geht der Lebensweg in Neuland, in Unerfahrenes, weiß der Mensch noch nicht, ob sein Leben trägt, dann gibt ihm die Erfahrung der Vergangenheit Sicherheit.

Manfred Entrich, Gott meint es gut mit uns, Topos Taschenbücher, 2016

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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