APROPOS Jesus | 60 Fragen - 60 Antworten
49. War Judas wirklich so mies?

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Ja und nein. Unser Wort „mies“ kommt interessanterweise über Umwege aus dem Hebräischen (meis) und bedeutet, dass jemand Verdruss bringt, etwas Verächtliches tut. Wenn Jesus ausgerechnet von einem seiner zwölf engsten Freunde an seine Feinde „ausgeliefert“ wurde, dann war das mies. Für Jesus, für den Ruf der Zwölf, für die junge Kirche. Aber warum hat Judas das getan? Es gab und gibt dazu viele Vermutungen in Theologie und Literatur. Keine befriedigt ganz. Die Evangelien sind auch keine historischen Protokolle und spitzen manches zu, wenn es um Judas geht. Aber spiegeln sie nicht doch die Wirklichkeit einer wachsenden Entfremdung zwischen Judas und Jesus gut wider?

Schon mit der Verwendung des griechischen Wortes für „Freund“ (hetaĩros) bringt das Matthäusevangelium subtil zum Ausdruck, dass sich die Beziehung zwischen Jesus und Judas gegen Ende hin wohl verändert hat: „Freund, dazu bist du gekommen? Da gingen sie auf Jesus zu, ergriffen ihn und nahmen ihn fest.“ (Mt 26,50) – Die Bedeutungsvielfalt des Wortes zeigt nämlich, dass damit keineswegs der Freund im Sinne eines liebenden philos gemeint ist. Es bezeichnet wohl eher einen Kameraden, einen Genossen bzw. einen Gefährten.

Aber wann ist die Stimmung gekippt? Wusste Jesus, was Judas vorhatte? – Das Johannesevangelium lässt das vermuten. So sagt Jesus schon an früherer Stelle: „Es gibt unter euch einige, die nicht glauben.“ – Mehr noch: „Er wusste nämlich von Anfang an, welche es waren, die nicht glaubten und wer ihn ausliefern würde.“ (6,64) Das oft schwankende Vertrauen des Judas war für ihn – als Freund – schon bald spürbar. Eine zutiefst menschliche Situation. Wer wüsste den zweifelnden Blick oder das ungläubige Nicken eines guten Freundes nicht zu deuten? Aber Jesus vertraute seinen Jüngern. Selbst Judas. Und das war keine naive Blauäugigkeit. Jesus wusste besser als andere um die Schwächen der Menschen. Deshalb liest man einige Verse später: „Habe ich nicht euch, die Zwölf, erwählt? Und doch ist einer von euch ein Teufel. Er sprach von Judas, dem Sohn des Simon Iskariot; denn dieser sollte ihn ausliefern: einer der Zwölf.“ (Joh 6,70f.)

Wenn Jesus von „Teufel“ spricht, steht im griechischen Urtext diábolos, wörtlich „Durcheinanderwerfer“. Wirft Judas mit seinem plötzlich über ihn kommenden Misstrauen nicht die ganze innere Ordnung durcheinander? Stiftet er Chaos? Ja, er bricht aus dem (Vertrauens-)Kreis der Zwölf aus, was er bald zutiefst bereut. Aber das Misstrauen kam wohl wie ein Schatten über ihn. Im Lukasevangelium wird die Situation des Verrates so beschrieben: „Da fuhr der Satan in Judas, genannt Iskariot, der zu den Zwölf gehörte. Judas ging zu den Hohepriestern und den Hauptleuten und beriet mit ihnen, wie er Jesus an sie ausliefern könnte.“ (Lk 22,3f.) – Der Preis des Verrates? 30 Silberstücke. Ein Betrag, der schon im Buch Sacharja (11,12) vorkommt. Aber brisanter ist die Stelle im Buch Exodus: „Stößt das Rind einen Sklaven oder eine Sklavin, soll der Eigentümer dem Herrn dreißig Silberschekel zahlen.“ (Ex 21,32) Den Freund um den Preis eines Sklaven verkaufen. Tiefer kann man nicht fallen. Oder tut man Judas Unrecht?

Lukas stilisiert ihn schon bei der Erwählung der Jünger durch Jesus zum „Verräter“ (6,16: griechisch prodótes). Im Johannesevangelium wird er als Veruntreuer der Einkünfte und als Dieb (vgl. Joh 12,6) dargestellt: Demnach hatte Judas von Anfang an ein mieses Image, das sich von Evangelium zu Evangelium steigerte.

Aber zu Recht? „Als nun Judas, der ihn ausgeliefert hatte, sah, dass Jesus verurteilt war, reute ihn seine Tat. […] Ich habe gesündigt, ich habe unschuldiges Blut ausgeliefert. […] Da warf er die Silberstücke in den Tempel, dann ging er weg und erhängte sich.“ (Mt 27,3–5) – Ein schreckliches Ende, das an die alttestamentliche Erzählung von Ahitofel und David erinnert. Dort ist es der Berater Davids, der seinem Herrn in den Rücken fällt und sich anschließend erhängt (vgl. 2 Sam 17,23). – Wenn in der Bibel von Selbstmördern erzählt wird, dann meist, weil jene einem grausameren Tod entrinnen wollten: Abimelech im Buch Richter, Saul im ersten Buch Samuel, Simri im ersten Buch der Könige oder Rasi im zweiten Buch der Makkabäer. Keine Tat aus purer emotionaler Verzweiflung, sondern eher aus Stolz oder Angst vor Schlimmerem. Und Judas? Reute es ihn wirklich?

Hallten vielleicht die Worte des Letzten Abendmahls in seiner Seele wider? „Weh dem Menschen, durch den der Menschensohn ausgeliefert wird! Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre.“ (Mk 14,21) – Nie geboren sein. Im Erdboden versinken. Sich auslöschen. Selbstverfluchungen dieser Art kennt man aus dem Buch Ijob: „Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin“ (3,3); oder der Prophet Jeremia ruft aus: „Verflucht der Tag, an dem ich geboren wurde.“ (20,14) Aber natürlich wissen wir nicht, wie Judas sich fühlte. Wir wissen nur, dass er seine Entscheidung, Jesus auszuliefern, zutiefst bereute. Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen, als er sah, was er angerichtet hatte. Was für ein Schock!

Ist Judas also nicht schon gestraft genug? Oder ein ewig „Verdammter“? Oder steckt in dem, wenn Jesus ihn „Freund“ nennt, doch noch Hoffnung? Jesu Herz ist groß genug und seine Weisheit wohl noch größer. Auch wenn Judas bei der Verhaftung Jesu mitgeholfen hat, ist er nicht die Ursache für dessen Hinrichtung. Auch ohne Judas hätte man Jesus gefunden und getötet. So rückt die Gestalt des Judas – so shady und schuldhaft er in der Kirchengeschichte auch dargestellt wird – in den Hintergrund. Man muss ihn nicht künstlich zum „Sündenbock“ der Superlative machen!

Irene Maria Unger

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SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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