APROPOS Jesus | 60 Fragen - 60 Antworten
45. Warum wurde Jesus gekreuzigt?

 

Wir haben ihn sagen hören: Ich werde diesen von Menschenhand gemachten Tempel niederreißen und in drei Tagen einen anderen aufbauen, der nicht von Menschenhand gemacht ist.“ (Mk 14,58)

Im Markusevangelium, das etwa 70 n. Chr. verfasst wurde, haben wir die ältesten Belege für das Kreuzigungsereignis aus dem Jahre 30. –Der Anklagegrund für Jesu Hinrichtung? Gotteslästerung. Denn auf die Frage „Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten?“ antwortet Jesus im Evangelium: „Ich bin es. Und ihr werdet den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und mit den Wolken des Himmels kommen sehen.“ (Mk 14,61f.) Dem Hohepriester ist das zu viel. Er zerreißt sich aus Empörung und Schmerz das eigene Gewand. Eine solche gotteslästerliche Aussage kann man unmöglich im Raum stehen lassen: „Er ist des Todes schuldig.“ (Mt 14,64)

Aber warum wird Jesus nicht gesteinigt, wie im Gesetz des Mose vorgesehen? Heißt es doch im Buch Levitikus: „Wer den Namen des HERRN schmäht, hat den Tod verdient; die ganze Gemeinde wird ihn steinigen.“ (24,16) – Grund dafür wird wohl sein, dass der jüdische Hohe Rat damals zur Ausführung der Todesstrafe nicht befugt ist. Ein solches Recht, die sogenannte Kapitalgerichtsbarkeit, ist dem römischen Provinzstatthalter vorbehalten. Das Johannesevangelium stellt die rechtliche Situation korrekt dar: „Die Juden antworteten ihm [Pilatus]: Uns ist es nicht gestattet, jemanden hinzurichten.“ (18,31)

Die intensive Nähe zu Gott, die Jesus für sich beansprucht, wird ihm zum Verhängnis. Die Vorwürfe seiner verschiedenen Gegner verdichten sich. Jetzt kommt es zum Verfahren. Gegen einen, der mit seiner Tempelaktion provoziert, als er wütend die Händler aus dem Heiligtum treibt. Gegen einen, der – wie Gott – Sünden vergibt. Gegen einen, der mit Zöllnern und Sündern isst. Gegen einen, der die Laster spiritueller Verantwortungsträger aufzeigt und sie heftig kritisiert. Gegen einen, der den Sabbat – den jüdischen Ruhetag – nicht einhält, weil ihm das Heil Kranker und Leidender wichtiger erscheint. Ja, gegen einen, der seine Jünger nicht daran hindert, am Sabbat Ähren abzureißen (vgl. Mk 2,23f.), um sie zu essen – wie ehrenlos …

Kein Wunder, dass das Markusevangelium schon nach den ersten Streitgesprächen Jesu mit seinen Gegnern in Galiläa anmerkt: „Da gingen die Pharisäer hinaus und fassten zusammen mit den Anhängern des Herodes den Beschluss, Jesus umzubringen.“ (3,6)

Jesus von Nazaret, ein wahrer Rebell: „Er wiegelt das Volk auf; er verbreitet seine Lehre im ganzen jüdischen Land, angefangen von Galiläa bis hierher.“ (Lk 23,5) – Und dieser Rebellion muss man entgegenwirken. Als für die öffentliche Ordnung Verantwortlicher muss sich Pontius Pilatus, Präfekt der römischen Provinz Judäa und somit oberster Richter, um diese Angelegenheit kümmern. Wer beansprucht, „König“ zu sein, oder sich wie ein „König“ feiern lässt, stellt die Autorität des römischen Kaisers infrage. Das ist als Hochverrat einzustufen. – „Was soll ich dann mit dem tun, den ihr den König der Juden nennt? […] Was hat er denn für ein Verbrechen begangen?“, will Pilatus von der Menge erfahren (Mk 15,12) Die knappe Antwort: „Kreuzige ihn!“ – Und so wird das römische Gerichtsverfahren gegen Jesus eingeleitet.

In der Antike gilt die Kreuzigung als besonders schändliche Art der Hinrichtung. Sie weist im mediterranen Raum folgende Merkmale auf: Es muss der Grund für die Verurteilung, der titulus crucis, bekannt sein. Der Verurteilte wird genötigt, sich seiner Kleidung zu entledigen. Der für die Kreuzigung notwendige (Quer-)Balken ist von ihm selbst zur Hinrichtungsstätte zu tragen, und zwar an einen Ort außerhalb der Stadt, aber keineswegs versteckt. Denn die Vorüberkommenden sollen den Hingerichteten aus nächster Nähe sehen können und dadurch von verurteilungswürdigen Taten abgeschreckt werden. Hardcore!

„Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36), hält Jesus im vierten Evangelium fest. Und doch lautet der offizielle Anklagegrund, den man schwarz auf weiß auf einem Täfelchen am Kreuz anbringt: „Jesus von Nazaret, König der Juden.“ Ob es nun ein politisches oder ein religiöses Vergehen ist, das ihn das Leben gekostet hat: Mit dem „Lästern“ über den Tempel (oder besser: die Tempelhierarchie) hat Jesus jedenfalls eine gefährliche Grenze überschritten. Sehenden Auges? Wohlwissend?

Irene Maria Unger

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SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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