APROPOS Jesus | 60 Fragen - 60 Antworten
41. Wurde Jesus auch handgreiflich?
Ja, tatsächlich! Man wird sich wohl von der Idee verabschieden müssen, Jesus sei ein stets in sich ruhender und emotional abgeklärter „Gott“ unter Menschen gewesen. Nein, schon das altchristliche Dogma sagt: Unvermischt und ungetrennt vereinen sich beide Naturen in der einen Person Jesu: ganz Mensch, ganz Gott. – So wurde Jesus eben auch wütend! Aber nicht aus Trotz und Feindseligkeit, sondern aus tiefer innerer Betroffenheit.
Alle vier Evangelisten berichten von Jesu heftiger Reaktion auf die von ihm als beschämend erlebte Oberflächlichkeit des wirtschaftlichen Treibens im Tempel:
„Das Paschafest der Juden war nahe und Jesus zog nach Jerusalem hinauf. Im Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen. Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle aus dem Tempel hinaus samt den Schafen und Rindern; das Geld der Wechsler schüttete er aus, ihre Tische stieß er um und zu den Taubenhändlern sagte er: Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle!“ (Joh 2,13–16) – Eindeutiger geht es wohl kaum. Jesus wurde aggressiv und handgreiflich. Ja, sogar eine Peitsche soll er geknüpft haben, um die Händler aus dem Heiligtum zu jagen.
Aber warum wird er derart wütend und wendet Gewalt an? Was steckt dahinter? Die Tempelbehörde hat einen solchen Verkauf von Opfertieren und das Geldwechseln schließlich gestattet! – Die in der Bibel daran anknüpfende Erzählung vom vertrockneten Feigenbaum (vgl. Mt 21,18–22) verstärkt diese diffizile Grundstimmung. Jesus gerät auch hier in Rage. Diesmal wegen eines Feigenbaumes, den er hungrig nach Früchten absucht. Als er unter den Blättern nicht fündig wird, verflucht er den Baum mit den Worten: „In Ewigkeit soll keine Frucht mehr an dir wachsen.“ Nun dämmert es dem Leser und der Leserin: Jesus wird wohl nicht nur „hangry“, also aus Hunger furchtbar gereizt sein. Nein, es steckt etwas ganz anderes dahinter!
Aber was lässt ihn so unwirsch vorgehen? Was ist in ihn gefahren? Wollte er eine prophetische Zeichenhandlung setzen? Oder war es schlicht Entrüstung? Bittere Enttäuschung darüber, dass die für den Tempelbetrieb Verantwortlichen (die Hohepriester!) den spirituellen Fokus völlig aus den Augen verloren haben? Die Metapher vom fruchtlosen Feigenbaum verdeutlicht dies: Die Geschäfte sind der Obrigkeit wichtiger geworden als das Gebet. Eine solche Haltung trägt keine Früchte. Das widerspricht der Reich-Gottes-Botschaft.
Denn Jesus betont in diesem Zusammenhang: „Alles, worum ihr betet und bittet – glaubt nur, dass ihr es schon erhalten habt, dann wird es euch zuteil.“ (Mk 11,24) – Das gilt auch für das Kommen des Reiches Gottes. Schon hier auf Erden. Und der Tempel ist nun einmal „der“ Ort der Gegenwart Gottes. Ein Heiligtum eben. Wieso auch sonst hätte man den Tempel vom alltäglichen Leben räumlich getrennt, wenn er nichts Besonderes darstellte? – Schon durch die Tempelarchitektur wird ausgedrückt: Der heilige Bereich muss durch eine Umfassungsmauer geschützt werden. Wenn die Grenze zwischen weltlichem und göttlichem Bereich, zwischen Geschäft und Spiritualität nun so schändlich unterlaufen wird, tut das dem gläubigen Menschen Jesus weh. Denn wer an etwas glaubt, und es liebt, wird dazu sagen: Es ist mir heilig.
Wenn es um die Liebe zu Gott – und damit auch um die Würde des Menschen (!) – geht, verliert auch der Mensch Jesus einmal die Contenance. – So setzte er bewusst ein Zeichen mit weitreichenden Folgen. Denn eine solche Provokation wollte und konnte an diesem besonderen Ort nicht unbemerkt bleiben. Von niemandem. – Kluge Strategie? Überbordende Emotion? Vielleicht beides?
Irene Maria Unger
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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