APROPOS Jesus | 60 Fragen - 60 Antworten
36. War Jesus allwissend oder musste er auch lernen?

Wenn Jesus mit Gott „eines Wesens“ ist, wie es das christliche Dogma lehrt, müsste er dann nicht auch in seinem Alltag als Mensch immer göttlich-allwissend gewesen sein?

Ja, es gab tatsächlich Theologen, die das annahmen. Und wir kennen Legenden (aus apokryphen Evangelien), die schon den Knaben Jesus zum allwissenden Wunderkind hochstilisieren. Aber diese wurden aus gutem Grund nicht in die Bibel aufgenommen. Denn das Kind Jesus musste wie andere Kinder seiner Umgebung vieles lernen: auf zwei Beinen gehen, Aramäisch reden, das hebräische Alphabet lesen, Buchstaben schreiben usw. Heute sind sich christliche Theologinnen und Theologen ziemlich einig, dass Jesus im Lauf des Lebens auch seine Berufung und den Willen Gottes immer tiefer und klarer erkannte. Im Lukasevangelium heißt es kurz und bündig: „Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen.“ (Lk 2,52) Das betrifft auch sein Beten. „Er lernt es von seiner Mutter […] mit jenen Worten und Formen, mit denen sein Volk in der Synagoge von Nazaret und im Tempel betet“, erklärt z. B. der Katechismus der Katholischen Kirche (2599). Und er lernt wohl auch von Johannes dem Täufer, dessen Predigten er hört und den er für „mehr als einen Propheten“ (Lk 7,26) hält.

Auf Grund seriöser Quellen können wir sagen: Der Mensch Jesus blieb bis zuletzt ein Lernender, gerade auch in den bitteren Stunden seines Leidens: „Obwohl er der Sohn [Gottes] war, hat er durch das, was er gelitten hat, den Gehorsam gelernt“, sagt eine Schrift des Neuen Testamentes (Hebr 5,8). „Gehorchen lernen“ – das bedeutet im biblisch-spirituellen Sinn, immer tiefer „hinein-horchen“ in das unergründliche Geheimnis Gottes und sich ihm anvertrauen. In Jesus ist auch Gott ein Lernender – ein kühner Gedanke des Christentums.

Ein markantes Beispiel für das Lernen Jesu ist die biblische Erzählung, in der Jesus einer heidnischen Frau begegnet, die ihn anfleht, ihre Tochter zu heilen (Mt 15,21–28). Jesus tut dies zuerst ab mit dem Hinweis, er wisse sich „nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ gesandt. Warum sollte er auf eine dahergelaufene Heidin hören? Aber das unnachgiebige kluge Vertrauen dieser Frau bewegt ihn schließlich doch dazu, ihre Bitte zu erfüllen. Mit Recht kann man sagen: Hier hat Jesus durch den Glauben einer heidnischen Frau den Willen seines himmlischen Vaters neu und tiefer erkannt. Ja, der Wille Gottes deckt sich in diesem Fall mit dem Willen einer Heidin: „Frau, dein Glaube ist groß. Es soll dir geschehen, wie du willst.“ (Mt 15,28) – Jesus hat gelernt.

Karl Veitschegger

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SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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