APROPOS Jesus | 60 Fragen - 60 Antworten
20. Warum hat Jesus nichts niedergeschrieben?

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Eine Legende aus dem vierten Jahrhundert erzählt, König Abgar von Edessa habe Jesus brieflich um Heilung von einer schweren Erkrankung gebeten und Jesus habe ihm liebevoll geantwortet und Hilfe angekündigt. Aber dieser Briefwechsel ist eine späte Erfindung.

In den Evangelien selbst kommt Jesus nur ein einziges Mal schreibend vor: Als er eine Ehebrecherin vor ihren selbstgerechten Verfolgern in Schutz nimmt (vgl. Joh 7,53–8,11), kritzelt er mit dem Finger etwas auf den Erdboden. Aber was er damals schrieb, verrät uns der Evangelist nicht. Jesus hat uns also nichts Schriftliches hinterlassen.

Manche bedauern das. Sie fänden es schön, hätte Jesus seine Lehre, systematisch gegliedert, selbst niedergeschrieben. Vor allem wer detaillierte „Vor-Schriften“ mag, hätte seine helle Freude damit. Aber das ist nicht der Stil Jesu. Der Lehrer aus Nazaret schreibt kein Lehrbuch, sondern vertraut das, was ihm wichtig ist, lebendigen Menschen an. Er „schreibt“ es in ihre Herzen, indem er sein Leben mit Männern und Frauen, die ihn als Jünger und Jüngerinnen begleiten, teilt. Vor-leben, nicht vor-schreiben, ist sein Stil. Seine Worte sind „Geist und Leben“ (Joh 6,63), nicht starr fixierte Texte. Damit lässt er viel Freiheit. Ihm nachzufolgen heißt nicht, ihn zu imitieren, sondern in seinem Geist (!) zu leben. Seine Jüngerinnen und Jünger tun das dann auch auf unterschiedliche Weise. Petrus ist nicht Maria Magdalena, Jakobus nicht Salome, Andreas nicht Johannes ... – keine und keiner ist eine Kopie Jesu, sondern jede und jeder ein Original, inspiriert und geformt vom Geist Jesu. So wird die frohe Botschaft nicht eintönig, sondern vielstimmig und variantenreich weitergegeben und gelebt.

Auch das Neue Testament ist kein Diktat Jesu, kein einheitliches Buch. Es enthält vier Evangelien, und jedes gibt seine eigene besondere Sicht auf Jesus frei. Auch die anderen Schriften verarbeiten das Anliegen Jesu auf je eigene Weise. Durchaus spannungsreich. Das ermöglicht verschiedene Wege, Jesus zu verstehen und ihm nachzufolgen. „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit!“ (2 Kor 3,17)
Dass auch Irrwege möglich sind und im Lauf der Geschichte auch gegangen wurden, ist das Risiko dieser Freiheit.

Auch in unseren Tagen gibt es unter denen, die Jesus nachfolgen, ein ernsthaftes Ringen, wie das, was Jesus einst gebracht hat, heute neu und vielfältig verkündet und gelebt werden kann. Dieses Ringen ist gut, vor allem wenn es gemeinsam und nicht gegeneinander geschieht. Ein Jesuswort im Johannesevangelium verspricht, dass dabei gute Wege gefunden werden können: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch [Plural!] alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ (Joh 14,26) „Erinnern“ meint hier nicht nur Gedächtnisauffrischung, sondern vor allem neues Verstehen und hilfreiche Aktualisierung der Jesus-Anliegen angesichts neuer Lebenssituationen und neuer Herausforderungen.

Karl Veitschegger

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Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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