APROPOS Jesus | 60 Fragen - 60 Antworten
15. War Jesus ein frommer Jude?

Ja, das kann man so sagen. Als Kind jüdischer Eltern wird er am achten Tag nach seiner Geburt beschnitten (vgl. Lk 2,21) und erhält den hebräischen Namen Jeschua bzw. Jeschu (griechisch Jesus), eine beliebte Kurzform von Jehoschua („Gott rettet“). Einiges spricht dafür, dass die Familie Jesu überzeugt ist, von König David (um 1000 v. Chr.) abzustammen (vgl. Röm 1,3; Mt 1,1; Lk 1,32; Mk 10,47). David gilt im Volk Israel als Vorfahre des kommenden Messias und ihm werden viele Gebete und Lieder zugeschrieben, die man als Psalmen in der Bibel findet. Jesus lernt wohl in der Familie und in der Synagoge die Psalmen, die Tora (Gesetz des Mose) und die Schriften der Propheten kennen.

Mit Überzeugung rezitiert er als Erwachsener das „Sch’ma Jisrael“, einen der wichtigsten Texte des Judentums: „Höre, Israel! JHWH, unser Gott, JHWH ist einzig. Darum sollst du JHWH, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ (Dtn 6,4–9, vgl. Mk 12,29–33). Diesen Gott, dessen Name in der hebräischen Bibel aus vier Konsonanten (JHWH) besteht, die aber aus Ehrfurcht nicht ausgesprochen werden, nennt er vertrauensvoll seinen Vater oder besonders zärtlich Abba (aramäisch „Papa“). Aus dieser Liebe heraus interpretiert er die Tora, die für alle Gläubigen im Volk Israel Ausdruck des Willens Gottes ist.

Schriftgelehrte haben die Aufgabe, die Tora zu studieren und für die Menschen lebensnah auszulegen, wobei es verschiedene Auslegungen nebeneinander geben darf. Auch Jesus wird als „Rabbi“ (Lehrer) angesprochen. Er schätzt die Tora, will sie keineswegs abschaffen, sondern – wie er sich ausdrückt – „erfüllen“ (vgl. Mt 5,17). Er will aufzeigen, worauf alle Gebote letztlich hinauswollen: ungeheuchelte radikale Liebe, Barmherzigkeit, Großzügigkeit, Versöhnungsbereitschaft bis zur Feindesliebe … Er trägt seine Auslegung mit großem Selbstbewusstsein vor. Das erregt Erstaunen, aber auch Widerspruch. Wenn er z. B. traditionelle Sabbatregeln missachtet, kultische Normen verletzt und Sünderinnen und Sündern die Vergebung Gottes zusagt, geht das vielen zu weit. Maßt er sich damit nicht göttliche Autorität an?

Andere verehren ihn, halten ihn für einen Propheten oder den Messias. Es gibt zur Zeit Jesu nicht das eine Judentum, sondern verschiedene jüdische Richtungen und Parteien. Wenn in den Evangelien „die Juden“ kritisiert werden, ist das innerjüdische Kritik an der Obrigkeit oder an bestimmten Gruppen. Jesus hat vor seinem eigenen Auftreten den kritischen Predigten Johannes’ des Täufers zugehört. Dass er dessen Aufruf zur Taufe folgt, ist ein Zeichen radikaler Entscheidung für Gott. Jesus versteht sich als „geliebten Sohn Gottes“ (vgl. Mk 1,11) und geht seinen ganz besonderen Weg, aber immer als Jude. Er besucht Sabbat für Sabbat die Synagoge (vgl. Lk 4,16), bezahlt die Tempelsteuer (vgl. Mt 17,24–27), feiert die Feste Israels und pilgert nach Jerusalem, um im Tempel zu beten. Dort kommt es allerdings zum Eklat. Markus erzählt (11,15): „Jesus ging in den Tempel und begann, die Händler und Käufer aus dem Tempel hinauszutreiben; er stieß die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenhändler um und ließ nicht zu, dass jemand irgendetwas durch den Tempelbezirk trug.“ Er tut dies nicht als Gegner des Tempels, sondern erklärt sein Verhalten laut Markusevangelium so: „Heißt es nicht in der Schrift: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes für alle Völker genannt werden? Ihr aber habt daraus eine Räuberhöhle gemacht.“ (Mk 11,17, vgl. Jes 56,7). Freilich bringt er damit die oberste Priesterschaft gegen sich auf. Sie wird ihn dem römischen Statthalter Pilatus als Unruhestifter ausliefern.

Rom duldet keinen Aufruhr im besetzten Palästina. Rebellen werden hingerichtet. So kommt es nach einem historisch nicht mehr ganz durchschaubaren Prozess zur Kreuzigung Jesu unter dem Spotttitel „König der Juden“. Jesus, der als frommer, aber selbstbewusster Jude gelebt hat, stirbt auch als Jude – laut Evangelien mit jüdischen Psalm-Worten auf seinen Lippen (vgl. Mk 15,34 par. und Ps 22; Lk 23,46 und Ps 31,6). Damals ahnt noch niemand, dass die Botschaft dieses Juden aus Nazaret schon bald unzählige Menschen in vielen Völkern und Kulturen erreichen und inspirieren wird. Und sie tut es bis heute.

Karl Veitschegger

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SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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