KULTUM
Passionsfrömmigkeit auf dem Prüfstein
Leiden wie Christus? Der Zürcher Künstler Till Velten inszeniert in seiner Ausstellung im KULTUM in Graz einen Raum für ein Terrain, das alles andere als zeitgenössisch gilt: Was sind Stigmata?
Was soll man von Menschen halten, die behaupten, die Wundmale Christi am eigenen Körper zu tragen? Es ist eine ungewöhnliche Frage, die den Zürcher Künstler Till Velten bewegt hat, jahrelang dieser Frage in Form eines Kunstprojekts nachzugehen. Es gibt davon mehr, als man denkt.
„Ein Zeichenspiel zu Stigmata in vier Akten“: Was 2019 in vier „Bildungsveranstaltungen“ im Cabaret Voltaire in Zürich über die Bühne ging, erlebt nun im KULTUM, dem Zentrum für Gegenwartskunst und Religion in Graz, als völlig neu konzipierte Ausstellung seine Uraufführung.
Denn es steht thematisch viel auf dem Spiel: die über Jahrhunderte gepflegte christliche Passionsfrömmigkeit, die in Menschen ihre Zuspitzung findet, die selbst die Wundmale Christi tragen. Der erste war der hl. Franziskus. Kunsthistorisch wurden Stigmata zu einem fixen Bildformular. Einige Beispiele aus dem Städel Museum in Frankfurt – Bleistiftzeichnungen von Stigmata-Darstellungen des hl. Franziskus – sowie eine kleine Fra Angelico-Tafel aus dem Vatikanischen Museum sind als maßstabgetreue Reproduktionen zu sehen. Aber auch im frisch renovierten Minoritensaal gibt es ein solches Bild. Das KULTUM reflektiert seine Präsentationsflächen für Kunst und Religion damit auch hinsichtlich ihrer historischen Wurzeln. Seit Franziskus gibt es viele, die diese intensivste Form einer Einswerdung des eigenen Körpers mit einem geschauten Bild erleben. Auch heute.
Ist das wahr? Ist das Einbildung? Ist das Fake? Till Velten lässt dazu Prof. Dr. Gert Overbeck (Uni Frankfurt) zu Wort kommen, der über viele Jahre Menschen mit psychosomatischen Leiden behandelte, unter ihnen viele, die Stigmata trugen. Er gab auch (mit dem Jesuiten und Mediziner Ulrich Niemann) ein Standardwerk zu „Stigmata“ heraus. Das ist harte Kost, die in der Ausstellung als eine von fünf lebensgroßen Video-Rückprojektionen vom Schauspieler Oskar Moser gelesen wird.
Als Ausstellung wird das Thema sinnlich aufbereitet mit acht großen digitalen Prints, die wie Malereien aussehen, aber keine sind. Vielmehr sind es Erinnerungsstücke von „Apfeldrucken“, die DIE ANDERE MARIA, eine „Randfigur“ der besagten Bildungsveranstaltungen, jeweils druckte, während die anderen debattierten ... Und es entstand auch eine „Tropfmaschine“ (die am Cover dieser SONNTAGSBLATT-Ausgabe zu sehen ist), die aus einem überdimensionalen Tropfgefäß besteht, aus dem langsam Blutstropfen tropfen, deren Aufprall betörend akustisch verstärkt wird.
Im letzten Raum tauschen sich ein Ausstellungsbesucher und „die andere Maria“ in einer abschließenden Begegnung über die Unlösbarkeit dieses Phänomens aus. Der eine versteht es nicht. Und will und kann es nicht glauben.
Es wird in all diesen vier Akten kein Urteil gefällt, die Frage nicht definitiv beantwortet, wohl aber ein flirrendes Milieu erzeugt, das die Sicherheit definitiver Antworten zu destabilisieren weiß und gleichzeitig Emotionen der Anteilnahme und des Respekts erlaubt.
Im Originalton
Johannes Rauchenberger führt in seiner Eröffnungsansprache am 19. Februar in diese Ausstellung ein.
„Kunst erleichtert es, in Abgründe zu blicken“
Das KULTUM (Kulturzentrum bei den Minoriten) in Graz versteht sich als ein Ort, wo Gegenwartskunst und Religion kreativ zusammengeführt werden – in großen und kleinen Ausstellungen, je nach dem. Haben wir zur Weihnachtszeit die Ausstellung „MUTTER GOTTES“ von Judith Zillich gezeigt – eine zeitgenössische Auseinandersetzung zur Ikone –, präsentieren wir nun zur beginnenden Fasten- bzw. zur Passionszeit eine Ausstellung zum Thema „Stigmata“. Das sind die Wundmale Christi. Der hl. Franziskus war der erste, der sie der Tradition nach erhalten hat, am Berg La Verna.
Es gibt ungewöhnliche Momente, wenn ein Künstler beharrlich auf eine Ausstellung drängt, die ein Thema behandelt, das in den eigenen Reihen eher verdrängt wird. Wer interessiert sich schon als ZeitgenossIn für ein Thema, das die katholische Religion zwar auf der Bildebene so sehr auzeichnet, das aber keineswegs einen theologischen Konsens in der zeitgenössischen Theologie und noch weniger der aktuellen Glaubenspraxis erzielt: die Passionsfrömmigkeit. Es gab und gibt dazu theologische Korrekturen!
Aber was ist mit Menschen, die diese „Imitatio Christi“ auf dem Leidenswege so weit treiben, dass sie die Wundmale Christi am eigenen Körper tragen? Das interessiert diesen Künstler. Und er macht dazu eine sinnlich erfahrbare Ausstellung voller Abgründe und Erkenntnisse. „Treten Sie ein!“, sagt der Mann im ersten Video vor dem Franziskussaal. „Es geht ums Ganze!“
Infobox
Kunst zu Aschermittwoch, 2. März 2022:
Kurator Johannes Rauchenberger führt mit Till Velten um 17 Uhr durch die Ausstellung. Anschließend um 19 Uhr Aschermittwochsliturgie in der Grazer St. Andrä-Kirche.
Die Ausstellung ist von Di–Sa von 11–17 Uhr und sonntags von 15–18 Uhr zu sehen.
Mehr Info auf: www.kultum.at
Macht Leidensmystik krank?
Prof. Dr. Gert Overbeck behandelte jahrzehntelang Menschen mit Stigmata.
Einer der Teilnehmer an den „Bildungsveranstaltungen“ im Cabaret Voltaire war ein ausgewiesener Kenner für Stigmata: Gert Overbeck gab mit dem Jesuiten Ulrich Niemann ein Standardwerk zu „Stigmata“ heraus. Aus der Sicht des Experten erzählt er von seinen Erfahrungen mit Menschen, die stigmatisiert zu ihm in die Behandlung kamen. Und wie er ihnen helfen konnte.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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