APROPOS Jesus | 60 Fragen - 60 Antworten
33. Hat Jesus meditiert?
Jesus im Lotussitz? – Es gibt Darstellungen, die ihn so zeigen. Aber sie stammen alle aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Diese Meditationshaltung, verbunden mit Praktiken, wie wir sie aus den fernöstlichen Religionen kennen, waren dem historischen Jesus vermutlich nicht geläufig. Aber er kannte als Jude andere Formen des Meditierens: das staunende Betrachten der Schöpfung und das „Nachsinnen“ über kostbare Worte der Heiligen Schrift „bei Tag und bei Nacht“ (Ps 1,2). Er wusste jedenfalls um die Kraft der Stille, um das Innehalten und Hineinhorchen in das, worauf es im Leben letztlich ankommt. Er lebte intensiv mit den Menschen in seiner Nähe, zog sich aber auch immer wieder bewusst in die Einsamkeit zurück. So lesen wir schon im ältesten Evangelium: „In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand er auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten.“ (Mk 1,35) „Beten“ heißt für Jesus nicht, möglichst viele Gebete zu sprechen. Ein zu wortreiches Beten kritisiert er als „Plappern“ (Mt 6,7). Ihm geht es vor allem darum, sich in großer Offenheit der Gegenwart Gottes anzuvertrauen – mit schlichten Worten oder auch ohne Worte.
Was Jesus in seinem „Beten“ erfährt, bringt das Johannesevangelium gut zum Leuchten: „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30) Man kann sagen: Jesus weiß sich mit dem göttlichen Urgrund ganz eins. Er nennt ihn „Vater“, manchmal ganz zärtlich mit dem aramäischen Kosewort Abba (Mk 14,36). Diese tiefe Einheit mit Gott verbindet ihn mit allem, was von Gott Dasein und Leben hat. Aus dieser Einheit fließt die Kraft zum Mitgefühl, ja sogar zur Feindesliebe, denn Gott „lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45).
Vor allem das Johannesevangelium betont immer wieder: Jesus ist aus Gott, lebt in Gott und Gott lebt in ihm. Daher will Jesus auch, dass alle, die sich ihm anschließen, diese Erfahrung des Eins-Seins mit Gott und in Gott machen (vgl. Joh 17,21–23). Er spricht auch oft von der „Herrlichkeit“ Gottes, also von jener göttlichen Schönheit, die stärker ist als jede Finsternis. Das Johannesevangelium ist in Sprache und Gestaltung selbst eine reife Frucht des Meditierens und des theologischen Nachdenkens. Es wurde wohl erst um 100 n. Chr. vollendet. Von ihm lassen sich bis heute viele Meditierende, auch außerhalb der Kirchen, inspirieren. Christliche Spiritualität hat im Lauf der Jahrhunderte viele eigene Formen der Meditation hervorgebracht, und ihr Angebot dazu ist auch in unserer Zeit groß.
Karl Veitschegger
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.