Max Mell
Destination Betlehem
Vor fünfzig Jahren starb der steirische Dichter Max Mell.
Manche Kritiker halten ihn für „zurecht vergessen“, doch lohnt sich ein zweiter Blick, zumal auf sein frühes Weihnachtsstück.
Von mir soll nicht die Rede sein, nur von meinem Werk!“ Das wünschte sich Max Mell, als ihn eine Grazer Tageszeitung 1969 anlässlich einer Inszenierung seines Stücks „Jeanne d‘Arc“ am Schauspielhaus um ein Interview bat. Die Nachwelt konnte und wollte ihm diesen Wunsch nicht erfüllen. Heute, fünfzig Jahre nach seinem Tod, ist von Mell zwar immer wieder noch die Rede, zuletzt etwa im Zusammenhang mit „bedenklichen Straßenbenennungen“ in Graz, seine Persönlichkeit ist aufgrund seiner zwiespältigen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus ein Streitfall geblieben, sein literarisches Werk jedoch, facettenreich und nicht ohne Weiteres auf einen Nenner zu bringen, findet kaum noch Beachtung. Wohl wird sein bekanntestes Drama, das „Apostelspiel“, da und dort noch von Laientheatergruppen aufgeführt, von der großen Bühne aber, die ihm zu Lebzeiten offen stand, der Bühne des Burgtheaters, ist es wie auch alle seine anderen Dramen längst verschwunden.
Mells erzählende Werke, seine Märchen, Legenden und Novellen wie die einst hochgelobte und vielgelesene, in der Landschaft um Pernegg, dem Sommersitz des Dichters, spielende Geschichte von der Magd Barbara Naderer, sind mittlerweile ausnahmslos vergriffen. „Werk wie Autor fehlen heute niemandem“ – auf diese knappe, apodiktische Formel brachte es erst jüngst ein prominenter österreichischer Literaturkritiker – ein erstaunliches Urteil, bedenkt man, dass niemand Geringerer als Hugo von Hofmannsthal in Mell eines der größten literarischen Talente seiner Generation gesehen und ihn nach Kräften gefördert hat.
„Freue mich auf die Weihnachtsnummer“, schreibt Hofmannsthal am 22. Dezember 1919 an Mell, damals Redakteur des „Wiener Mittag“. Die Freude hatte einen Anlass, denn in besagter Weihnachtsnummer der Zeitung erschien eine neue Dichtung des jungen Autors, „Das Wiener Kripperl von 1919“. So behäbig der Titel auch klingt, dahinter verbirgt sich ein literarisches Experiment: Mell versuchte hier, den Expressionismus für sich fruchtbar zu machen. Zu dessen besonderen formalen Vorlieben zählte das Stationendrama, eine Form des poetischen Theaters, die es den Autoren erlaubte, die Einheit von Zeit und Raum zu überwinden. Ein solches Stationendrama ist nun auch Mells „Wiener Kripperl“, und zwar im buchstäblichen Sinn, handelt es doch von einer Straßenbahnfahrt durch eine graue Wiener Winternacht. Was als ganz gewöhnliche Fahrt mit der Linie 52 in Hütteldorf beginnt, führt auf direktem Wege nach Betlehem; Wagenführer und Schaffner entpuppen sich als Engel, und an der Endstation wartet die Krippe.
Die Passagiere auf dieser Fahrt: samt und sonders Verzweifelte, des Lebens überdrüssig und aller Hoffnung beraubt. Da ist eine Arbeiterfrau, die gerade im Kindbett ihr Kind verloren hat; da ist ein junger, enttäuschter Revolutionär, der sich das Leben nehmen will; da sind Familien, die vom Holzsammeln im Wienerwald zurückkommen, verhärmt, vergrämt, böse aufeinander und auf die ganze Welt; da ist ein scheinbar vornehmer Herr, in Wahrheit ein verarmter Offizier, der aus dem Krieg, wie er sagt, ein Andenken mitgebracht hat: einen Splitter, der zum Herzen wandert …
In wenigen Szenen, wenigen Stationen entsteht ein vielstimmiges Kaleidoskop des Wiener Nachkriegselends. Mell beschönigt es nicht, zeichnet es in scharfen Umrissen nach. Am Ende des Stücks steht kein billiger Trost zur Beruhigung aufgebrachter Seelen, sondern ein jähes Erwachen mitten in der Nacht – und ein großes, befreiendes Erstaunen: „Schöpfung! Schöpfung! Sie ist da!“
Christian Teissl
Ein Paradiesmärchen von Max Mell (1882–1971)
Bevor der Herr die Erde erschaffen hatte, rief er die Tiere zusammen und fragte sie, wie er sie wohl machen sollte.
„Mache sie recht eben und weit, dass sie nicht aufhört!“ rief das Pferd und wieherte mutig.
„Mache sie recht dick und weich“, sagte der Maulwurf, „dass ich überall durchkomme.“
„Wenn sie nicht ganz voll Wasser und flüssig ist“, meinte der Fisch, „so habe ich wenig Freude daran.“
„Ich will, dass sie voll hoher spitziger Berge ist!“ sagte der Adler. „Ich will noch über ihnen fliegen und hinunterschauen und thronen auf ihnen.“
„Mache sie nur nicht zu klein“, bat die Mücke. „Recht groß lass sie sein, damit viele Mücken auf ihr Platz haben.“
Der Herr hatte ihnen zugehört, und da er sie alle gleich liebte, groß wie klein, erfüllte er jedem einzelnen den Wunsch; und so wie er es tat, waren sie es zufrieden.
Der Mensch aber sah, dass die Erde für sie alle gemacht war, er aber nicht gefragt worden war, wie er sie wünschte. Da wandte er sich mit Klagen an den Herrn und sprach: „Alle Geschöpfe hast du gefragt, wie die Erde ihnen taugen soll, nur mich nicht. Da darfst du auch nicht erwarten, dass ich mit ihr zufrieden bin.“
Der Herr aber entgegnete: „Du bist auch nicht gemacht, um an ihr dein Genüge zu haben. Hast du denn wie die Tiere die Augen zur Erde gewendet? Du sollst auf ihr zu Hause sein, aber der anderen Heimat, die du hast, gedenken. Dazu bist du da.“ Und seit damals geht der Mensch aufrecht.
Quelle: Max Mell, Gesammelte Werke, Bd. 4, Wien: Amandus 1962, S. 187; leicht gekürzt
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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