Positionen - Elisabeth Wimmer
Flügelspitzen

Im Sommer 1897 besucht die 21-jährige Paula Modersohn mit ihren Eltern ein Dorf im Teufelsmoor nahe Bremen. Sie kennt das bäuerliche Dorfleben noch nicht. Aufgewachsen ist sie in einer bürgerlichen Familie, ohne Sorgen, wenn auch nicht im materiellen Überfluss. In ihrem Tagebuch findet die junge Frau nachdenkliche Worte voll Respekt für die Menschen im Dorf. Sie nimmt karge Lebensumstände wahr. Der „Kampf mit dem Groschen“ präge fürs ganze Leben: „Mangel an Geld schmiedet uns fest an die Erde, man bekommt die Flügel beschnitten, man merkt es nicht, weil die Schere ganz vorsichtig täglich nur eine Ahnung abschneidet.“

Zwar ist auch die Kehrseite ein Problem, das wissen wir: Wer im Überfluss lebt, mag sich oft zu sehr an Äußeres hängen – und vergisst leicht, dass Glück, Sinn und Lebensfreude nicht automatisch aus materiellem Reichtum wachsen. Auch Überfluss kann „an die Erde schmieden“.

Wie fein die junge Frau den umgekehrten Zusammenhang benennt, berührt mich: Wo um materielle Grundlagen täglich gekämpft werden muss, bleibt wenig Kraft und Freiheit im Kopf für Ideen, Phantasie und Zukunftspläne, wenig Möglichkeit zu gemeinsamen Unternehmungen mit anderen Menschen, aus denen Freundschaften wachsen könnten. Und deshalb ist es besonders problematisch, wenn Familien mit Kindern an der Armutsgrenze strampeln. Denn wo die Armutsschere von jungen Flügelspitzen „täglich nur eine Ahnung abschneidet“, lernen die kleinen Vögel erst gar nicht, eine Ahnung zu spüren – aus der eine Idee werden könnte, eine Vision, eine Erfindung. Ein Flug ins Leben.

Elisabeth Wimmer

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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