Interview
Leben auf der Straße

Überlebenswichtig: Von November bis März ist das Kältetelefon erreichbar. Wer in den kalten Monaten Menschen auf den Grazer Straßen nächtigend antrifft, kann Hilfe holen: Unter 0676/88015 7171 sind Haupt- und Ehrenamtliche erreichbar und helfen mit Schlafsack, Tee und einem guten Wort.  | Foto: Caritas
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  • Überlebenswichtig: Von November bis März ist das Kältetelefon erreichbar. Wer in den kalten Monaten Menschen auf den Grazer Straßen nächtigend antrifft, kann Hilfe holen: Unter 0676/88015 7171 sind Haupt- und Ehrenamtliche erreichbar und helfen mit Schlafsack, Tee und einem guten Wort.
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Obdach- und Wohnungslosigkeit in der Steiermark.
Gründe, Herausforderung und Hilfe für Menschen ohne Bleibe.

Mehr als 20.000 Frauen und Männer gelten in Österreich als obdach- oder wohnungslos. Das heißt, sie haben keine oder nur vorübergehend Unterkunft bei Familie oder Bekannten. Im Interview: Caritas-Notschlafstellen-Leiter Jakob Url.

Laut statistischem Amt der Republik Österreich waren im Vorjahr 20.573 Personen als obdach- oder wohnungslos registriert. Österreich nimmt in der Liste der 50 reichsten Länder weltweit Platz 17 ein. Wie kommt es, dass bei uns Menschen auf der Straße leben müssen?
Jakob Url: Wohnungslosigkeit ist oft verbunden mit einem Rucksack an Problemen. Menschen, die auf der Straße leben, sind meist aus dem sozialen Netz gefallen und haben zusätzlich einen oder mehrere Schicksalsschläge hinter sich. Dazu kommt das Faktum, dass der Anteil an psychischen Erkrankungen bei wohnungs- und obdachlosen Menschen bei 60 Prozent liegt und die Dunkelziffer mit 80 Prozent noch weitaus höher ist. Hilfe zur Selbsthilfe ist für diese Menschen schwierig – sie haben Hilfsangebote oft nicht im Blick. Umgekehrt bedarf es oft viel Zeit, obdach- und wohnungslose Menschen davon zu überzeugen, die Angebote einer Hilfseinrichtung anzunehmen.

Heißt das, dass viele Menschen auf der Straße gar keine Hilfe wollen ?
Url: Für Außenstehende mag das vielleicht komisch klingen, aber tatsächlich schlafen manche Wohnungs- und Obdachlose lieber im Freien, weil sie so selbstbestimmter leben können. Anstatt in einer Notschlafstelle zu bleiben, basteln sie sich ihr eigenes Heim und fühlen sich freier. Für uns bedeutet das – vor allem im Winter: Da muss man einfach dranbleiben.

Wie schaffen Sie und Ihr Team es, Menschen aus der Kälte zu holen?
Url: Grundsätzlich wichtig ist, mit dem richtigen Angebot im richtigen Moment bei den Betroffenen zu sein. Im Rahmen unseres Kältetelefons etwa wurde ein Obdachloser über einen langen Zeitraum hinweg an jedem zweiten Tag besucht. Vier Monate lang haben unsere Freiwilligen heißen Tee,
Essen oder einen Schlafsack vorbeigebracht. Nach vier Monaten hat es geklappt: Die Person hat eingewilligt und ist seitdem in einer Obdachlosen-Einrichtung. Das sind die Erfolgsmomente: Wenn nach Jahren, oft nach dem 20. Treffen oder mehr, die Menschen doch in eine Hilfseinrichtung kommen wollen. Damit schlechte Erfahrungen, Vorurteile und Ängste abgebaut werden können, braucht es viel an Beziehungsarbeit.

Stichwort „Beziehung“: Was ist mit Menschen auf der Straße, die Tiere bei sich haben: Wo finden sie Unterschlupf?
Url: Das ist ein wichtiger Punkt. In der Arche 38, der Caritas-Notschlafstelle nahe dem Hauptbahnhof am Grazer Eggenbergergürtel, können Menschen auch mit ihren Tieren leben. Wer wohnungslos ist und mit seinem Hund auf der Straße lebt, wird sich nicht von seinem Tier trennen – es ist sein Lebenspartner und treuer Begleiter in schwierigen Zeiten. Umso wichtiger ist, dass Mensch und Tier zusammenbleiben können.

Vor einem knappen Jahr öffnete in Graz die Bahnhofsmission. Wer ist in dieser Einrichtung willkommen?
Url: Alle, die ein Dach über dem Kopf suchen und dieses niederschwellige Angebot am Grazer Hauptbahnhof nutzen wollen. Die ursprüngliche Bahnhofsmission bündelte alles, was an Wohnungs- und Obdachlosenhilfe wichtig war. Bei ihrer Schließung Anfang der 1990er-Jahre entstanden mehrere Notschlafstellen, das Marienstüberl zur Verpflegung und die Marienambulanz zur medizinischen Versorgung. Was in Graz dennoch gefehlt hat, war ein modernes Tageszentrum, wo sich Menschen aufhalten können und unterstützt werden. Deshalb hat die Bahnhofsmission auch 365 Tage im Jahr offen. Wir fragen nicht nach Namen, Herkunft oder Status. Erst, wenn die Menschen sich uns anvertrauen wollen, können sie aus der Anonymität heraustreten. Wer auf der Straße lebt, kann den Ruheraum nutzen. Menschen aus Nachtasylen essen hier, können sich duschen oder Kartenspielen. Auch Reisende kommen und wärmen sich auf. Über den Tag verteilt sind es zwischen 80 und 100 Personen, die das Angebot in der Bahnhofsmission nutzen – vor allem wochenends, wenn andere Einrichtungen geschlossen haben.

Seit zehn Jahren leiten Sie die Caritas- Winternotschlafstelle, seit sieben Jahren das Grazer Kältetelefon. Wie hat sich Ihre Arbeit im Laufe der Jahre verändert?
Url: Notschlafstellen sind oft das letzte Auffangnetz für Menschen ohne Bleibe. Diese niederschwelligen Einrichtungen wird es, gefühlt, immer brauchen. Wichtig dabei ist Qualitätsentwicklung. Deshalb arbeiten wir daran, wegzukommen von Mehrbettzimmern in den Unterkünften und hin zu mehr Privatsphäre für die Menschen – nicht zuletzt, damit sie unsere Angebote auch annehmen können. Ein Mindestmaß an Intimität und einen kleinen Raum für sich und seine Habseligkeiten ist schließlich für jeden Menschen wichtig. In Graz sind wir dahingehend auf einem guten Weg: Wir stellen Menschen nicht „Abbruchbuden“ zur Verfügung, sondern wollen Menschen ohne Bleibe wertschätzend begegnen.

Interview: Anna Maria Steiner

Caritas-Notschlafstellen-Leiter Jakob Url. | Foto: Caritas

Zum Tag der Straßenkinder

Jugend Eine Welt unterstützt obdachlose Minderjährige.

Sie leben auf Friedhöfen und unter Autobahnbrücken, decken sich mit Kartons oder Zeitungen zu und essen, was andere Menschen wegwerfen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNESCO) schätzt die weltweite Zahl der Straßenkinder zwischen 100 und 150 Millionen. Besonders viele obdachlose Kinder und Jugendliche seien in den großen Städten Afrikas und Indiens anzutreffen, in Brasilien oder Peru. Oft konsumieren sie Alkohol oder psychoaktive Substanzen, sind Zwangsprostitution ausgesetzt oder werden Opfer zahlreicher Formen von Gewalt.
Rund um den 31. Jänner, den Gedenktag des Jugendheiligen Johannes Bosco, macht Jugend Eine Welt auf die schwierigen Lebensumstände von Straßenkindern aufmerksam, bittet um Spenden für Don-Bosco-Hilfsprojekte. In Afrika unterstützt Jugend Eine Welt deshalb auch Hilfsprojekte für Straßenkinder. Seit 1979 bieten die Salesianer Don Boscos in Liberia oder Sierra Leone Kindern und Jugendlichen Zuflucht, Obdach und die Chance auf einen Neustart durch eine Ausbildung. In der liberischen Hauptstadt Monrovia plant Bruder Lothar Wagner (Bild unten, Mitte) derzeit ein Rehabilitationszentrum für straffällig gewordene Jugendliche. Jugend Eine Welt unterstützt ihn dabei, Kindern, die auf der Straße leben mussten, die Chance auf eine selbstbestimmte und gewaltfreie Zukunft zu ermöglichen.

 Infos und Spendenkonto:

AT66 3600 0000 0002 4000
www.jugendeinewelt.at

Foto: Jugend Eine Welt

Überlebenswichtig: Von November bis März ist das Kältetelefon erreichbar. Wer in den kalten Monaten Menschen auf den Grazer Straßen nächtigend antrifft, kann Hilfe holen: Unter 0676/88015 7171 sind Haupt- und Ehrenamtliche erreichbar und helfen mit Schlafsack, Tee und einem guten Wort.  | Foto: Caritas
Caritas-Notschlafstellen-Leiter Jakob Url. | Foto: Caritas
Foto: Jugend Eine Welt
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SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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