Lebensjahr 2008 - Was nun? | Teil 01
Mein Sohn hat sich das Leben genommen

Fluchtweg aus der Wirklichkeit. | Foto: Bilderbox

"Das kannst du dann alles nicht brauchen.“ Die schmale Frau mit den braunen Haaren schüttelt leicht erstaunt den Kopf. Die Bemühungen der Freunde und Verwandten gingen in der Zeit nach dem Begräbnis an ihr vorbei. „Ich hatte damals wirklich auch körperlich keine Kraft. Ich konnte nicht einmal etwas aufheben.“ Jetzt meint die Umwelt, es wäre langsam an der Zeit, in die Normalität zurückzukehren. „Es ist ja nicht bös gemeint, aber…“ Der zweite Teil des Satzes bleibt irgendwie in der Luft hängen. Wie sie ihren Kaffee trinkt und dabei nach Worten sucht, lässt jede Frage als Zumutung scheinen.

Anna Gruber (Namen von der Redaktion geändert) hat ihren Sohn tot in seinem Zimmer gefunden. Eines Morgens, als sie ihn wecken wollte. Hannes hatte Feuerzeuggase geschnüffelt, ist dabei eingeschlafen und vom Sessel gefallen. Bis heute ist ungeklärt, ob es „ein wirklicher Selbstmord war oder eine Grenzerfahrung, die eben daneben gehen kann“. Bis zu ihrem eigenen Tod müssen die Eltern nun mit dem Verlust leben. Fast kann man sagen, dass wir Kinder haben, um uns selbst zu begegnen, um uns selbst zu finden. Wer ein Kind verliert, wird einer Erfahrung beraubt, für die es keinen Ersatz gibt. „Es ist das Tabu der Tabus“, meint Hanna Caspar, Psychotherapeutin und verantwortlich für die fachliche Leitung des Vereins „Verwaiste Eltern“. „Der Tod setzt uns eine Grenze, das Erleben dieser Ohnmacht kann Wut auslösen oder andere Gefühle, mit denen man nicht umgehen kann.“

Abschiedsbrief hat es im Fall von Hannes Gruber keinen gegeben. Für seine Mutter auch ein Grund anzunehmen, dass sein Tod letztlich kein bewusster Selbstmord war. Er befand sich in einer Umbruchsphase und wollte in Zukunft sein eigenes Geld verdienen. „Eine IT-Lehre wäre sein Traum gewesen.“ Mit einem Freund ist er dabei in ein Fahrwasser geraten, das seiner Mutter nicht immer ganz geheuer war. „Ich weiß, dass der andere bei sich zu Hause Hanfpflanzen gezüchtet hat, aber das habe ich nicht so ganz ernst genommen.“ Typisch eben für die Pubertät eines jungen Burschen. „Schließlich war er ja kein Heiliger.“

Alltäglicher Abschied.

Was sie immer wieder berührt, ist die absolute Alltäglichkeit der letzten Unterhaltung mit ihrem Sohn, die jetzt auf einmal so große Bedeutung bekommen hat. „Wir haben noch besprochen, was wir am nächsten Tag essen werden, und er hat gefragt, wann wir die Kipferln, die wir beim Hofer gekauft haben, aufbacken werden. Dann bin ich schlafen gegangen.“ Anna Gruber schüttelt leicht den Kopf. Dafür gibt sie sich bis heute die Schuld und kann sie nicht überwinden. „Man denkt immer, wenn ich damals aufgeblieben wäre, wenn etwas anders gewesen wäre, dann hätte ich etwas tun können. Vielleicht hätte ich doch etwas gehört und rechtzeitig nachgeschaut. Man weiß genau, dass das nicht stimmt, aber man kann das nicht abschütteln.“ Denn Beunruhigendes gab es einfach nicht. Auch der Hund der Familie hatte in dieser Nacht keine ungewöhnlichen Geräusche gehört.

Im Schweigen leben.
„Mein Mann sagt eigentlich nichts. Ich denke, dass es auch für ihn schwierig ist, dass er Hannes vermisst, aber wissen Sie, Männer reden nicht so viel.“ Das muss man ihrer Meinung nach verstehen: Man kann eben nicht immer über einen Menschen reden. Anna Gruber bemüht sich, ihrer Tochter genügend Aufmerksamkeit zu geben. Sich auf ihren Beruf zu konzentrieren, um wieder neu hineinzuwachsen in den Alltag. „Es ist aber nicht so, dass man die gleiche Kraft hat wie früher.“

Hilfe annehmen.
Wenn sie in der Gruppe mit anderen Eltern von ihrer Last sprechen kann, wird alles leichter, denn dort sind auch andere, die mit Schuldgefühlen kämpfen. Angelika Maierhofer (Name von der Redaktion geändert) versucht den Selbstmord ihres psychisch kranken Sohnes zu verkraften. Seine tragische Geschichte bleibt wohl eingemeißelt in ihre Erinnerung. Obwohl das jetzt schon vier Jahre her ist, spürt sie sich immer noch geteilt und nach beiden Seiten gezogen. „Ich will bei meinem Sohn sein, wo auch immer er jetzt ist, und gleichzeitig natürlich hier sein, im wirklichen Leben.

Neu leben lernen.
Jetzt im Juni strotzen die Bäume und Blumen vor Kraft. Die Schulschwänzer machen sich einen lustigen Tag und schlendern durch die Straßen. Gerade zur Schulschlusszeit ist die ganze Stadt von einer Fröhlichkeit geprägt, von der Hoffnung auf Ferien und Freiheit. „Wenn ich die Jugendlichen sehe, sehe ich immer noch meinen Hannes gehen…“ Die Gedanken, was es alles für ihn nicht geben wird, lassen Anna Gruber nicht los, und die Erinnerung kommt in den alltäglichen Situationen: „Wenn ich den Tisch decke, nehme ich oft immer noch ganz automatisch vier Sets aus der Lade, und erst dann fällt mir ein, …“ Noch ein Satz, der kein Ende findet. Weil es kein Ende gibt.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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