Schön fürs Leben | Teil 05
Im Schauen der Schönheit Gott selber schauen

Selbst zum Licht werden! | Foto: Willibald Maurer

Was geschieht mit mir, wenn ich die Schönheit einer Landschaft betrachte? Ich spüre in mir Freude über die Schönheit, die mir von außen entgegenkommt. Mein Herz weitet sich. Ich fühle mich gut, und ich fühle mich schön. Die Faszination durch das Schöne weist mich hin auf das Schöne in mir. Es ist gut, dass ich vom Schönen, das mir außen begegnet, den Blick nach innen lenke und dort all das Schöne entdecke, das mich so fasziniert. Das Schöne, das wir in der Schöpfung und in der Kunst wahrnehmen, ist ein Spiegel für die eigene Seele. In mir ist etwas von der wunderbaren Landschaft, die ich betrachte. Wenn ich von einer schönen Landschaft träume, ist es immer ein Bild für meine eigene Seelenlandschaft. In mir ist das wunderbare Licht, das mir im Sonnenuntergang entgegenleuchtet. Ich gehe ganz im Betrachten des Sonnenuntergangs auf, weil ich mich in diesem Augenblick selbst als wunderbar erlebe.

Kontemplation heißt: Betrachtung und Schauen. Die Griechen sprechen von theoria und meinen damit das reine Schauen. Es ist kein beurteilendes oder bewertendes Schauen. In diesem Schauen geht es vielmehr darum, eins zu werden mit dem Geschauten.

Das Schauen war für die Griechen der wichtigste Sinn. Theos (Gott) kommt von theastai (geschaut werden). Im Schauen der Schönheit schaue ich Gott selbst. Und indem ich im Schauen mit Gott eins werde, werde ich auch mit Gottes Schönheit eins. Ich erkenne nicht nur die eigene Schönheit. Ich werde vielmehr eins mit dem Schönen um mich herum. Die griechische Mystik war immer eine Mystik des Schauens. Im Schauen werde ich eins mit dem Geschauten. Daher war sie immer auch eine Einheits-Mystik, eine Mystik des Einswerdens. Das geschieht vor allem durch das Schauen.

Kontemplation als die Schau Gottes hat für Evagrius Ponticus zwei Stufen. Die erste Stufe ist die theoria physike, die Kontemplation der Natur. Sie sieht in der Schöpfung das Wesen aller Dinge, den göttlichen Urgrund. Sie erkennt in der Schönheit der Schöpfung das Urschöne Gottes. Die zweite Stufe ist die Kontemplation des dreifaltigen Gottes. In ihr wird der Mensch, der sich von seinen Leidenschaften und von seinen eigenen Gedanken entleert hat, eins mit Gott, der jenseits aller Gedanken ist. Wer mit Gott in der Kontemplation eins wird, der kann Gott nicht als etwas Besonderes sehen, sondern er sieht Gott in allem. Und er sieht ihn in sich selbst. Denn die Kontemplation ist verbunden mit dem Schauen eines inneren Lichtes. Gott leuchtet also wie im Spiegel in der menschlichen Seele auf. In der Zeit des Gebetes, so sagt Evagrius, erscheint dem Menschen „sein eigener Zustand […] wie ein Saphir oder nach Art und Farbe des Himmels.“ Die Kontemplation als Einswerden mit Gott heißt für die griechische Mystik: Einswerden mit dem Licht und selbst zum Licht werden. Einswerden mit dem Schönen und selbst schön werden. Und Einswerden mit der Liebe und selbst zur Liebe werden.

Aus: Anselm Grün, Schönheit. Eine neue Spiritualität der Lebensfreude, Münsterschwarzach: Vier-Türme-Verlag 2014

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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