Vor den Vorhang
Ein Leben für den Frieden

- Wohin die Welt sich (bevölkerungsmäßig) entwickelt, skizzierte Karl Kumpfmüller u. a. beim KAB-Studientag am 18. Jänner 2025 in Graz. Der studierte Jurist, Wirtschafter und Psychologe rief Friedens-Initiativen ins Leben wie das Grazer Friedensbüro oder das Europahaus Eisenstadt.
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Friedensforscher Karl Kumpfmüller erklärt, warum es noch immer Kriege gibt und was jede und jeder für den Frieden tun kann.
Herr Prof. Kumpfmüller, als Student sind Sie bereits erfolgreich für Alternativen zum Wehrdienst eingetreten, seit Jahrzehnten sind Sie ein international geschätzter Wissenschafter. Was genau ist Friedensforschung?
Dr. Karl Kumpfmüller: Während meiner Studienzeit in den USA habe ich in der Aula den Leitspruch der John Hopkins Universität oft gelesen „veritas vos liberabit“, auf Deutsch: „Die Wahrheit wird euch befreien“. Erst dachte ich, es sei ein Spruch der Aufklärung – bis ich herausfand, dass er im Neuen Testament steht, beim Evangelisten Johannes. Das ist auch mein Lebensprinzip, dachte ich mir. Es gibt nie volle Erkenntnis, aber ich möchte der Wahrheit möglichst nahekommen und die Verhältnisse so sehen, wie sie sind.
Friede beginnt also mit Wahrheit?
Kumpfmüller: Ja. Wie können wir das, was Realität ist, noch besser erfassen und verstehen? Diese Frage ist ganz wichtig in der Friedensforschung. Die Realität darf nicht ideologisch bewertet werden, sondern muss mit Zahlen und Fakten belegt sein. Man muss sich fragen: Stimmt das überhaupt, was wir behaupten? Stimmt es etwa, dass Russland so viele Atomwaffen hat und wir noch mehr brauchen, um dagegenhalten zu können?
Damit wären wir beim Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begonnen hat. Warum gibt es noch keinen Frieden?
Kumpfmüller: Friedensverhandlungen gab es bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn. Ende März trafen sich in Istanbul etwa 20 Delegierte aus der Ukraine und ebenso viele aus Russland und arbeiteten ein Abkommen aus.
Es könnte also längst schon Frieden geben?
Kumpfmüller: Am 29. März 2022 einigten sich die beiden Länder weitgehend über eine Beendigung des Krieges. Im sogenannten „Istanbuler Kommuniqué“ stimmte die Ukraine u. a. zu, dass sie nicht NATO-Mitglied, sondern neutral werde und nicht zulassen würde, dass ausländische Raketen und Atomwaffen auf ihrem Staatsgebiet stationiert werden. (Der Nordatlantikpakt, kurz: NATO, wurde 1949 im Zuge der Eindämmungspolitik der USA gegen die Sowjetunion beschlossen, Anm. d. Red.) Russischsprachige Gebiete sollen einen Sonderstatus bekommen. Als Beispiel dafür ist Südtirol genannt – das steht wortwörtlich so im Abkommen. Der endgültige Status der Krim solle in Verhandlungen innerhalb der nächsten 15 Jahre geklärt werden. Im Gegenzug verspricht Russland den vollständigen Abzug aus der Ukraine und stellt das Gebiet wieder so her, wie es vor dem Angriffskrieg war. Es waren nur noch Details zu klären, in allen wesentlichen Punkten war man sich einig und kommunizierte das auch in den Medien. Das Friedensabkommen war praktisch unterschriftsreif.
Warum ist dann, knapp drei Jahre später, in der Ukraine immer noch Krieg?
Kumpfmüller: Weil die Rüstungsindustrie Waffen verkaufen will. Als die USA und England vom Istanbuler Abkommen erfahren haben, telefonierten US-Präsident Joe Biden und der damalige britische Premier-Minister Boris Johnson miteinander. Johnson flog sofort nach Kyjiw, um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj davon zu überzeugen, die im Abkommen ausverhandelten Zugeständnisse an Russland nicht zu machen und den Krieg weiterzuführen. Der Westen werde der Ukraine genügend Waffen liefern, um die Russen vertreiben zu können. Das war am 8. und 9. April 2022.
Seit wann ist die Rüstungslobby so mächtig?
Kumpfmüller: Schon Präsident Eisenhower hat dahingehend gewarnt. In den 1960er-Jahren waren bereits 3,5 Millionen AmerikanerInnen in der Rüstungsindustrie beschäftigt. Bis zum Zweiten Weltkrieg war das anders: Betriebe, „die Schwerter produzierten, konnten zugleich auch Pflüge herstellen“. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich ein eigener Rüstungszweig innerhalb der Industrie. In seiner Abschiedsrede nach acht Jahren US-amerikanischer Präsidentschaft warnte Eisenhower am 16. Jänner 1961 vor der Einmischung des „militärindustriellen Komplexes“ und davor, dass dieser die Innen- und Weltpolitik zu beherrschen drohe. Seine Warnung ist Wirklichkeit geworden.
Wie beeinflussen Kriege unsere Wirklichkeit?
Kumpfmüller: Durch den Angriffskrieg in der Ukraine hat die Ost-West-Spaltung wieder enorm zugenommen, und wir befinden uns in einer zweiten Phase des sogenannten Kalten Krieges. Viele in Europa sagen: „Wenn die Russen in der Ukraine einmarschieren, können sie das auch in anderen Ländern tun. Wir müssen deshalb rüsten, rüsten, rüsten.“
Was bedeutet das konkret?
Kumpfmüller: Vor kurzem habe ich eine Graphik zum Thema erstellt, die das Rüstungsverhältnis zeigt zwischen Russland und der NATO mit ihren 32 Mitgliedsstaaten in Nordamerika und Europa. Gepanzerte Fahrzeuge gibt es in der NATO 45.000, in Russland 11.000. Artillerie, also großkalibrige Geschütze und Raketenwaffen, hat die NATO 22.000, Russland 6000. Kampfpanzer gibt es in der NATO 9000, in Russland 2000. Kampfflugzeuge gibt es in NATO-Ländern 5000 und in Russland etwa 1000. Nur bei den Nuklearsprengköpfen ist man aufgrund eines noch gültigen Vertrages gleich auf: Russland und die NATO verfügen über je 5977 Sprengköpfe – man spricht hier auch vom „Gleichgewicht des Schreckens.“ Auch ohne die USA ist Europa Russland zahlenmäßig weit überlegen. Wir haben in der NATO eine derartige Überrüstung – allein die jährlichen deutschen Rüstungsausgaben sind jetzt so hoch wie die russischen! Warum zeigt man DAS im Fernsehen nicht?
… weil wir uns noch ohnmächtiger fühlten?
Kumpfmüller: Wir verdrängen vieles, weil wir in einer Unterhaltungsindustrie leben. Aber wir müssen wieder Bewusstsein schaffen über die Zusammenhänge in der Welt! Selbst im Frieden sind wir vom Krieg betroffen, weil er sich stets auf andere Länder auswirkt. Das ist nun einmal die Realität, in der wir leben. Unser Denken muss wieder global werden – alles andere fällt auf uns zurück.
Können wir irgendetwas tun?
Kumpfmüller: Im Laufe meines Lebens habe ich tausende LehrerInnen in Friedenserziehung geschult, weil sie, gemeinsam mit den Eltern, wichtige Multiplikatoren sind. Man kann und soll mit Kindern diskutieren. Politische Bildung an Schulen ist unglaublich wichtig! Insofern würde ich Sie bitten, optimistisch zu sein: Wir haben so viele Bildungsmöglichkeiten und Zugang zu Informationen! Und wir können diese miteinander abgleichen. Aber wir müssen herausfinden, welche Informationen die richtigen sind und wer den Zugang zu Information bestimmt. Das ist mit Sicherheit eine der wichtigsten Aufgaben, die wir in Europa wahrnehmen müssen! Deshalb sollen wir danach streben, der Wahrheit möglichst nahezukommen.
Interview: Anna Maria Steiner
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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