Brasilien | Teil 01
Die Brasilianer gibt es nicht

 

188 Millionen Menschen heißen Brasilianer. Manche leben in wüstenähnlichen Gebieten, andere im Regenwald, andere an Palmenstränden. Und jede Reise nach Rio de Janeiro ist ein Besuch in einer anderen Welt: eine Stadt, in der sich die Gegensätze Brasiliens am deutlichsten zeigen. Da liegen Faszinierendes und Abstoßendes nahe nebeneinander.

Nicht einmal die Strandbewohner sind einander unbedingt ähnlich. Die von Rio heißen Cariocas und sind eindeutig anders als jene im Norden Brasiliens – kommunikativer jedenfalls. Und viele ihrer Gesichter ähneln sich nicht einmal. Im nordöstlichen Salvador tanzen die Nachfahren der eingeschifften Sklaven Capoeira, nicht Samba, und grillen Shrimps in afrikanischem Palmöl statt getrocknetes Fleisch am Spieß. Ihre Candomblé-Verehrung (Vermischung von katholischen Heiligen und afrikanischen Göttern) ist den südlichen Mitbewohnern, die sich mit Europäern verwechseln lassen, weitgehend unbekannt.

Gibt es sie überhaupt – die Brasilianer?

„Warum stellen Sie diese Frage?“ Die Soziologie-Professorin Leda Benevello de Castro aus Belo Horizonte schaut mich verwundert an und erwidert: „Wir Brasilianer sind eine Gesellschaft – trotz unserer historischen, politischen, sozialen, ethnischen, kulturellen und regionalen Unterschiede.“

Immer wieder kritisiert man das eigene Land: seine autoritären und korrupten Politiker, die alltägliche Gewalt, die Armenviertel, den Luxus der Reichen, die Korruption, den mühsamen Kampf um Einhaltung der Verfassung.

„Aber trotz der gesellschaftlichen Unterschiede und der sozialen Probleme in unserem Land eint uns seit fünf Jahrhunderten ein unumstrittener nationaler Stolz“, betont Leda und weist auf das größte Fußballstadion der Welt hin: „Gehen Sie ins Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro, und Sie wissen, was es heißt, Brasilianer zu sein.“ Hautfarbe und Kultur unberücksichtigt. Nationalstolz inklusive. Gerade der Fußball ist ein wesentlicher Teil gemeinsamer brasilianischer Identität.

Es sind nicht die bekannten Stereotype aus dem Reisekatalog, sondern die brasilianische Vielfalt und die Pracht dieses bunten Gemenges, die Leda Benevello de Castro den Europäern von ihrem Land mitteilen will. Vor allem die brasilianische Offenheit für diese Verschiedenheiten im gemeinsamen Staat.

„Europäern erscheinen unsere gesellschaftlichen Unterschiede gravierend, aber Brasilianer haben auch viele Eigenschaften gemeinsam“, sagt Leda und nennt „das ‚flexible‘ soziale Verhalten“ als Beispiel: Brasilianer lieben es, kreative Lösungen für alltägliche Probleme zu finden – nicht immer logisch nachvollziehbar für europäisches Denken, aber mitunter originell.

Und sie haben ein herzliches Gemüt: „Das macht stark. Das hilft uns, wenn wir scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzen gegenüberstehen“, sagt sie. Und es lässt Buntheit gedeihen.

 

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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