Sonntagsblatt+plus | KONTRAPUNKTE
Von Freiheit und Solidarität
Impfpflicht? – Medizinische Fakten und ethische Abwägungen. Der Moraltheologe und Ethiker Johann Platzer zeigt die Ambivalenz des Themas auf. Für Krankenhaushygieniker Klaus Vander ist Herdenimmunität durch Impfung die einzige Chance, COVID-19 in den Griff zu kriegen.
Fakten und Fragen
„In der Debatte um eine etwaige Impfpflicht zählen zunächst medizinische Fakten“, hält der Moraltheologe Dr. Johann Platzer fest. „Das Coronavirus ist leicht übertragbar, und nur durch eine Impfung werden wir die Pandemie langfristig in den Griff bekommen“, ist der Ethiker überzeugt. In Wirkung und Nutzen- bzw. Risikoverhältnis ist die Impfung alternativlos – darüber sind sich Ethiker Dr. Platzer und Prim. Dr. Klaus Vander, Krankenhaushygieniker der Steiermärkischen Krankenanstalten Gesellschaft (KAGes) einig. Dr. Klaus Vander erklärt die Notwendigkeit von Herdenimmunität. Ethische Abwägungen zur Impfpflicht trifft Dr. Johann Platzer.
»Freiheit bringt auch
Verantwortung mit sich.«
Prim. Dr. Klaus Vander
ist ärztlicher Direktor des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie der KAGes.
Die von den einen als Verheißung und moralische Verpflichtung, von den anderen als Vorausgriff auf ein totalitäres System empfundene, zuletzt medial häufig thematisierte Impfpflicht spaltet zunehmend die Gesellschaft und schafft Gräben, deren Überbrückung sich immer schwieriger gestaltet.
Gewiss, eine der proklamierten Grundfesten unserer zentraleuropäischen Gesellschaft stellt ja die Freiheit des Einzelnen in seinen Gedanken, Einstellungen und seiner Lebensweise dar. Diese Freiheit bringt jedoch auch Verantwortung mit sich. Entscheidungen mit persönlicher als auch gesellschaftlicher Tragweite bedürfen einer rationalen Bewertung.
Die Impfung ist in ihrer Wirkung bzw. in ihrem Nutzen-/Risikoverhältnis alternativlos! Der insbesondere in sozialen Medien emotional geführte Diskurs für und – vor allem – wider führt einem das „Sicherheitsparadoxon“ schmerzhaft vor Augen: Das subjektive (kollektive) Gefühl der Unsicherheit wächst mit dem Ausmaß der objektiven Sicherheit.
Krankheitslast und Herdenimmunität
Wir werden als Gesellschaft lernen müssen, COVID-Infektionen als eine zusätzliche Krankheit zu akzeptieren und damit umzugehen. Das Wesentliche dabei ist, dass wir die damit assoziierte Krankheitslast, die Hospitalisierungsrate und die Sterblichkeit im Griff haben. Hierfür braucht man eine Durchimpfungsrate von mehr als 65% der impfbaren Bevölkerung. Ab dieser Prozentzahl ist der erste Schritt hin zur häufig zitierten Herdenimmunität getan. Nehmen wir uns also die Freiheit, und beeinflussen wir sowohl das Jetzt als auch die Zukunft gemeinsam positiv!
»Solidarität lässt sich
nicht verordnen.«
Dr. Johann Platzer
Moraltheologe an der Kath.-Theol. Fakultät Graz und Lektor für Medizinische Ethik an der Med-Uni Graz.
Neben den medizinischen Fakten zum Coronavirus (siehe Mitte) gilt es in der Debatte um eine etwaige verpflichtende Schutzimpfung gegen COVID-19 auch ethische Abwägungen zu treffen: Freiheit bedeutet nicht schrankenlosen Individualismus. Stets gilt es, zwischen den Prinzipien Selbstbestimmung, Solidarität und Gerechtigkeit abzuwägen. Wenn also geplante Behandlungen für Geimpfte in den Spitälern verschoben werden müssen, um Kapazitäten für Ungeimpfte zu schaffen, ist es gerechtfertigt, verpflichtende Impfungen (für bestimmte Berufsgruppen) einzufordern; ebenso dann, wenn immer mehr Intensivbetten für Nichtgeimpfte gebraucht werden. Aber auch psychologische Faktoren müssen berücksichtigt werden: Der Begriff „Impfpflicht“ wirkt für viele abschreckend. Man muss sich also auch fragen, inwiefern eine verpflichtende Impfung nicht auch den sozialen Frieden gefährdet. Druck erzeugt bekanntlich Gegendruck. Solidarität lässt sich eben nicht verordnen.
Nicht moralisieren, sondern informieren und motivieren
Soweit die komplexe Theorie. Was heißt das nun aber für die Praxis? Zuallererst sollten wir auf das „Moralisieren“ verzichten! Nicht alle „Impfverweigerer“ mit aus ihrer Sicht teilweise berechtigten Ängsten handeln egoistisch oder irrational, und umgekehrt dürfte wahrscheinlich auch nicht bei allen Geimpften das Attribut „solidarisch“ zutreffen. Wir sollten also vielmehr versuchen, Polarisierungen zu vermeiden, indem wir Menschen transparent informieren und zur Impfung motivieren. Das ist herausfordernd. Wir werden aber nicht darum herumkommen.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.