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Pilgern: gemeinsam oder allein?
Viele Schritte, Gebete und Lieder, Gedanken, Schweiß und ja: auch Blasen liegen auf den Pilgerwegen nach Mariazell, Rom, Assisi, Santiago de Compostela. Manche Pilger sind am liebsten in der Gruppe unterwegs, manche gehen solo, allein mit Sonne, Regen und ihrem Weg.
Der Weg fordert und gibt
Man ist zu Fuß unterwegs zu einem spirituellen Ziel, allein oder in einer Gruppe, ein Rucksack auf dem Rücken und oft einer im Herzen. Durch äußere und innere Landschaften führt der Weg: frohe Lieder, Seufzer, Wutausbruch wechseln sich ab. Der Weg fordert seine eigene Art von Konzentration: Abzweigungen rechtzeitig sehen, Unwegsamkeiten aufmerksam bewältigen. Der Weg fordert Kraft, körperlich und mental. Und er gibt: Konzentration, Kraft, Begegnungen und Abschiede, Gastfreundschaft, Weggefährten, Willkommensgruß und Loslassen. Ob allein oder gemeinsam: Pilger sind in einer großen Zeiten und Wege überschreitenden Gemeinschaft unterwegs.
»Gemeinsam Kirche auf Zeit sein.«
THOMAS BÄCKENBERGER
geboren 1961, diverse Aufgaben im diözesanen Dienst, ehrenamtlich ab August 2021 Spartenleiter Pilgern der Diözesansportgemeinschaft (DSG).
Wenn Pilger und Pilgerinnen als Gruppe über längere Zeit miteinander unterwegs sind, entsteht so etwas wie „Kirche auf Zeit mit leichtem Gepäck“.
Menschen mit unterschiedlichem Alter, unterschiedlichen Berufen, unterschiedlichem religiösen Hintergrund etc. sind gemeinsam auf ein Ziel hin unterwegs. Dieses Ziel verbindet sie, schweißt sie zusammen. Sie sind bereit, die eigenen Grenzen auszuloten. Sie helfen den Mitpilgernden, wenn es körperliche Probleme gibt. Sie ermutigen einander, wenn jemand ein körperliches oder mentales Tief hat. Die Gespräche, die sich ergeben, sind manchmal oberflächlich, aber oft sehr tief, wie es im Alltag seltener der Fall ist. Die Themen ergeben sich aus dem, was sie am Weg sehen und erleben. Nicht selten wächst das Vertrauen, Mitpilgernden etwas sehr Persönliches anzuvertrauen, sei es Freudvolles, sei es Leidvolles.
Die religiösen Impulse, die in Freiheit angeboten werden, tragen oft das Ihre zur Vertiefung bei. Gemeinsame Gottesdienste und Gebete in unterschiedlichen Formen verstärken die Erfahrung der Gemeinschaft, die zusammenhält und sich auf etwas außerhalb von ihr ausrichtet. Jausen- und Essenszeiten stärken Leib und Seele und verdichten sich in der gemeinsamen Eucharistiefeier am Ziel der Wallfahrt. Und nicht zuletzt die gemeinsame Rückfahrt, die oft interessante Ausblicke auf die zurückgelegte Strecke bietet, lässt noch einmal viel Dankbarkeit für die Erfahrungen der vergangenen Tage aufsteigen.
Der Abschiedsgruß lautet dann sehr oft: „Pfiati, und bis nächstes Jahr, wieder auf dem Weg nach …!“
»Die Augen und den Geist öffnen: Ich kann das nur, wenn ich allein gehe.«
SVJETLANA WISIAK
geboren 1989, ist Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei VinziWerke Österreich.
Den Camino del Norte gehe ich in Etappen: Von Navia bis Santiago de Compostela 2018, von Irún bis Laredo 2019. Ich gehe allein. Einsam fühle ich mich aber nicht: Jährlich brechen Hunderttausende zur vermeintlichen Grabstätte des Apostels Jakobus auf, doch der Pilgertourismus kann dem „Camino“ eines nicht nehmen: seine Magie.
Ich spreche von dem Phänomen, das Pilger gemeinhin „Camino-Magic“ nennen. Es heißt, dass der Jakobsweg jedem Menschen das schenkt, was er gerade braucht – vorausgesetzt, man öffnet die Augen und den Geist. Ich kann das nur, wenn ich allein gehe. Denn der Camino stellt nicht nur die Reise nach Santiago dar, sondern auch eine zu dir selbst. Er reduziert dich aufs Wesentliche. Auf dem Weg kann jemand dein engster Freund werden, dem du gerade erst begegnet bist. Cristóbal war so jemand. Als wir uns tagelang aus den Augen verloren hatten, tauchte er in diesem Moment auf, als ich in einem Wald wegen einer Knieverletzung am Verzweifeln war. Meinen Rucksack wollte er tragen, mich stützen. Als ich an einem anderen Tag auf einem verlassenen Campingplatz beim Frühstück saß und mich unendlich einsam und betrübt fühlte, rauschte eine Gruppe an, die mich mit ihrer Stimmung aufgeheitert und in ihrer Mitte aufgenommen hat. Unterwegs zwischen Magie und Einsamkeit.
Die „Camino Magic“ kann jeder erleben. Das ist der Grund, wieso mich dieser Weg so gefesselt hat. Habe ich das aufarbeiten können, weshalb ich aufgebrochen bin? Nein. Doch dafür ist noch Zeit, und der Wegkilometer sind es viele. Und schließlich führen alle Caminos nach Santiago.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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