Positionen - Elisabeth Wimmer
Vor dem Spiegel

Die Morgennachrichten, vor dem Badezimmerspiegel. Manchmal hätte ich wirklich gern einen Überblick! Über alles.

Dann würde ich mich weniger machtlos fühlen angesichts dieses Knäuels von Klima- und politischen Erhitzungen, auch angesichts der Mutlosigkeit mancher Mitmenschen oder der Aggression anderer, ihrer „Eh-klar-wer-schuld-ist“-Erklärungen (die Obrigkeiten, Migranten, Feministinnen, der Westen/Osten, die Konservativen/Progressiven …) für schwer durchschaubare Fragen. Vieles ziemlich verwirrend!

Ich bin skeptisch, was den simplen Überblick betrifft. Zu viele Zusammenhänge. Außerdem gibt es extrem unheilvolle Erfahrungen mit Menschen, die mit ihrem „Überblick“ die Schuldigen am gerade aktuellen Schlamassel zu kennen glaub(t)en.

Es gibt keinen Überblick über das „große Ganze“. Schon immer nicht. Das ist eine große Kränkung. Schon immer. Wir wurden hineingeboren in einen Film, der längst vor unserem ersten Atemzug begonnen hat. Mühsam erschließen wir uns die Vorgeschichte und ringen um ein glückliches Ende.

Die Religionen versuchen sich schon lange Zeit dem ersehnten Gesamtsinn anzunähern, der den Lebens- und Weltfilm rund machen könnte. Doch jetzt (so lesen wir etwa im Ersten Korintherbrief) schauen wir in einen Spiegel. Was wir im Spiegel sehen, hängt von unserer Perspektive ab, von dem Winkel, in dem wir hineinschauen, vom momentanen Standpunkt. Es wird kein Gesamtbild sein.

Die Karwoche erzählt von einem Menschen, der seinem Blick in den Spiegel treu geblieben ist. Er starb, und wir hören: Er hat Erlösung ermöglicht.

Elisabeth Wimmer

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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