Positionen - Elisabeth Wimmer
Klassentreffen

Foto: Neuhold

Was mit ein wenig Rätselraten begonnen hat, mit fragenden Blicken in einst vertraute Gesichter, entwickelt sich zu lebhaften Stunden voller Geschichten. Es ist Klassentreffen. 40 Jahre nach unserem Schulabschluss gibt es viel zu erzählen. In unterschiedlichen Berufsfeldern sind wir angekommen und in verschiedenen Lebensweisen. Das älteste Enkelkind ist schon zehn Jahre alt, das jüngste Kind ist noch 16. Unsere Haare sind zumeist nicht dunkler geworden. Doch ja: Wir haben uns wiedererkannt.
Die Gesichter sind die gleichen wie vor 40 Jahren und sind es auch wieder nicht. Das war freilich zu erwarten, doch es „von Angesicht zu Angesicht“ zu erleben macht nachdenklich. Wie haben nur 40 Jahre in diesem kleinen
Zwischenraum Platz, der sich beim Zuhören und Erzählen vor die Bilder meiner Erinnerung schiebt! „Früher“ und „Jetzt“ liegen wie transparente Folien übereinander. Das ist hinreißend, aufwühlend, ein souveräner Windhauch aus Zeit; er heißt nicht einfach „Vergänglichkeit“.
In vielen feinen Gesichtsfalten sind auch Erfahrungen anwesend, die an diesem (langen) Abend nicht zur Sprache kommen – und so manche tiefe Furche. 40 Jahre: Die Liebe, das Lachen, der Schmerz, Neuanfänge und auch der Tod haben ihre Spuren gezogen.
Wie ertragen es Menschen, an jedem Morgen wieder zu wissen, dass die Jahrzehnte nur Leihgaben sind? Sie wiederum leihen der Zeit ihre Gesichter, Tag für Tag. Das ist der Deal. Die Leihgeber der Zeit sind wir nicht. Doch die Zeit braucht unsere Gesichter.

Elisabeth Wimmer

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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