Mutworte - Br. David Steindl-Rast, OSB.
Gott – der und die Sehende

Foto: Norbert Kropf

Psychologische Forschung hat bestätigt, dass wir in Augenblicken höchster „mystischer“ Bewusstheit anders sehen als im Alltag, mit anderen Augen sozusagen. Dann sehen wir Dinge und Menschen gewissermaßen ohne Bezugnahme auf uns selbst, „so wie sie in sich selbst sind“. In dieser Sicht erscheint uns alles, was wir sehen, wie verklärt, wie von innen her strahlend mit heiliger Schönheit.

Wenn wir verliebt sind, schauen wir einander oft spontan auf diese Weise an. Dann wird uns auch bewusst, dass eine solche Art zu schauen die Wirklichkeit wahrheitsgetreuer zeigt als ein durch Gewohnheit abgestumpfter Blick. Wir stellen uns nicht nur vor, dass Gott so sieht, wir wissen es, denn die letzte Wirklichkeit schaut auch durch unsere Augen.

Wer Gott den Sehenden nennt, sagt damit nicht nur aus, dass Gott sieht, sondern wie Gott sieht. Das kann tröstlich sein, besonders für jene von uns, die keine hohe Meinung von sich selber haben. Der Schriftsteller C. S. Lewis sagt einmal, dass wir Menschen voreinander niederfallen würden wie vor Göttern, wenn wir unsere Schönheit unverhüllt sehen könnten. Der Sehende sieht uns in unserer ganzen Schönheit.

Kannst du einmal gelassen in den Spiegel schauen, ohne irgendein Urteil zu fällen über das, was du da siehst? Schaue es einfach geduldig an, liebend sogar, so wie der bzw. die Sehende, so wie eine Mutter ihr Kind ansieht. Lass dir Zeit dabei, und lass dir dieses Anschauen „gefallen“ – im Doppelsinn dieser Redewendung.

Aus: David Steindl-Rast, 99 Namen Gottes, Verlag Tyrolia, 2019. 

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.

Powered by PEIQ