Positionen - Christian Teissl
Genug für alle

Freude hat viele Gestalten: Sie kann eine Tür sein, die lange versperrt war und nun mit einem Mal aufgeht; sie kann ein überraschender Anruf sein, genau im richtigen Moment; sie kann ein klärendes Wort sein, das eine Spannung löst, ein Missverständnis beseitigt; sie kann aber auch die Erleichterung sein, ein verletzendes Wort nicht ausgesprochen, einen verheerenden Plan nicht ausgeführt und sich von einer grundfalschen fixen Idee endlich verabschiedet zu haben.

Tausend Gesichter hat die Freude und tausend Wege sind es, die sie nimmt. Was sie eigentlich ist, darüber lässt sich lang nachdenken, in langen gelehrten Traktaten. Die kürzeste und für mich denkwürdigste Definition von Freude habe ich aus dem Mund einer Frau gehört, der das Leben manches zugemutet hat, ohne ihr die Fähigkeit, sich am Hier und Jetzt zu freuen, rauben zu können. „Freude“, so sagte sie mir einmal, „das ist wie zehn Tassen Kaffee.“

Mag das auch übertrieben klingen, wahr ist es doch: Denn man kann noch so müde und abgekämpft sein, die Freude rüttelt einen wieder wach, richtet wieder auf und will sogleich mitgeteilt werden, will mit anderen geteilt sein. Zehn Tassen Kaffee: das ist schließlich genug für alle.

Christian Teissl

teissl@mur.at

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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