Mutworte - Br. David Steindl-Rast
Faszinierend und erschaudernd
Bei Gipfelerlebnissen, etwa beim Miterleben einer Geburt, bei einer einzigartigen Konzert-aufführung, an einem herrlichen Tag im Hochgebirge oder unter dem hochgewölbten Himmel einer sternklaren Nacht, da kann uns Menschen das Gefühl einer Ehrfurcht gebietenden Gegenwart zugleich faszinieren und erschaudern lassen. Wir können dann das geheimnisvolle Du, das uns bei dieser Begegnung entgegenwartet, den HEILIGEN nennen.
Wenn uns etwas zugleich fasziniert und erschaudern macht, dann nennen wir es heilig. Dem kleinen Kind am Strand muss das Meer so erscheinen, wenn es vor Freude kreischend aufs Wasser zuläuft, gleich aber wieder flieht, wenn eine Welle ihm entgegenschäumt. Als Erwachsene können wir Ähnliches fühlen, wenn ein heiliger Anblick, etwa die Silhouette der Cheops-pyramide am nächtlichen Himmel, uns hinreißt, uns aber zugleich ein Gefühl wie Angst einjagt durch ihre Erhabenheit.
Heiligkeit und Barmherzigkeit gehören zusammen. Das dürfen wir nie vergessen.
In der Begegnung mit dem HEILIGEN wird mir nicht nur meine eigene Unvollkommenheit bewusst, sondern vor allem die Gnade, dass der Vollkommene, der Reine, sich mir – ja mir, so wie ich bin – zuwendet und mich heiligt. Diese Barmherzigkeit weiterzuschenken an alle, denen ich begegne, ist wahre Ehrung des HEILIGEN. So wie reine Fensterscheiben das Sonnenlicht ungetrübt durchströmen lassen, kann ich die Barmherzigkeit des HEILIGEN durch mich hindurchströmen lassen.
Aus: David Steindl-Rast, 99 Namen Gottes, Verlag Tyrolia, 2019. Foto: Norbert Kopf
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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