Positionen - Christian Teissl
Einen Atemzug lang

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Sonntagabend in Wien. Ich fahre mit der U4 von der Station Pilgramgasse zur Station Karlsplatz.
Ein fremder Mann, ein Mann in meinem Alter, geht durch den Waggon. Er geht von Sitzreihe zu Sitzreihe, bleibt immer wieder stehen und hält die Hand auf: „Ich bin obdachlos.“ Er spricht leise und schnell; man versteht kaum, was er sonst noch sagt.
Die Leute um ihn herum verhalten sich unterschiedlich: Manche tun so, als wäre er Luft, manche wenden sich verlegen ab und betrachten ihr Spiegelbild im Fenster, andere wiederum zögern keinen Augenblick, ihm etwas zu geben.
Bald wird er die Stelle erreicht haben, an der ich stehe, und seine Gegenwart wird mich einen Atemzug lang vor die Entscheidung stellen: Soll ich seine aufgehaltene Hand erwidern oder vor ihr die Augen verschließen? Die Strecke ist kurz, mein Ziel bald erreicht, für Überlegungen ist keine Zeit, und das ist gut. Denn mit den Überlegungen kommen Zweifel und Fragen, kommen die vielen Einwände und Ausflüchte.
Der Mann steht nun direkt vor mir. Wie ich mich verhalten soll – ich weiß es nicht. Bleibt mir nur, mich einer momentanen Eingebung zu überlassen – und im Wort „Eingebung“ steckt nicht von ungefähr das Wort „geben“.
Christian Teissl
teissl@mur.at
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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