Kirche Steiermark
Mehr Chancen für Familien
Caritas und KiB3 starten in Graz die Kindergartensozialarbeit.
Das Vorreitermodell soll präventiv gegen Armut wirken und dazu beitragen, mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen.
Woher kam der Impuls für die Kindergartensozialarbeit (kurz KISA)?
Friedrich Mayer: Der Anstoß kam aus dem Kindergarten selbst. Die Leiterin des Marien-
kindergartens kam auf mich zu. Einer Mitarbeiterin der Sprachförderung war aufgefallen, wie sehr die psychosozialen Probleme der Familien und Verhaltensauffälligkeiten der Kinder, die daraus entstehen, den Alltag in der Einrichtung prägen. Das Fachpersonal hat aber gleichzeitig nicht die Möglichkeit, angemessen darauf zu reagieren.
Und wie kam dann KiB3 mit ins Boot?
Alexandra Strohmeier-Wieser: Ich denke schon lange über Möglichkeiten der Entlastung von
Familien im Kindergarten nach. Als dann vor eineinhalb Jahren die Anfrage von
Caritas-Vizedirektor Erich Hohl betreffend Kindergartensozialarbeit kam, habe ich mich sehr gefreut.
Was soll man sich denn genau unter Kindergartensozialarbeit vorstellen?
Strohmeier-Wieser: Ich verwende gerne ein Bild: Die Kinder kommen mit einem kleinen Rucksack von zuhause in den Kindergarten. Manche Kinder haben Jausenbox und Kuscheltier dabei; andere einen riesengroßen Stein, der aber auf den ersten Blick nicht sichtbar ist, sondern sich oft erst im Verhalten der Kinder bemerkbar macht. Dieser Stein kann aus unterschiedlichem „Material“ bestehen, etwa Gewalt- und Trennungserfahrungen. Er kann mit starken Emotionen wie Ängste, Wut, Traurigkeit besetzt sein. Zu klären, was in diesem Rucksack von zuhause eingepackt ist und dann diese Belastungen herauszunehmen, damit das Platz hat, was kindgerecht ist – das werden die Aufgaben der Kindergartensozialarbeiterinnen sein.
Mayer: Und sie können auch professionell die notwendige Elternarbeit im psychosozialen Bereich übernehmen, für die Pädagoginnen nicht ausgebildet sind oder keine Zeit haben. Kindergartensozialarbeit richtet sich an die Eltern oder Erziehungsberechtigten, wir arbeiten nicht direkt mit den Kindern. Und sie entlastet das Fachpersonal.
Sollen sich in der Partnerschaft zwischen Caritas und KiB3 auch die Interessen von sozialarbeiterischem und pädagogischem Ansatz verbinden?
Mayer: Aus Caritas-Sicht ist wichtig, dass wir mit diesem Angebot präventiv wirken können. KISA bietet regelmäßige Sprechstunden und ist sehr niederschwellig. Wir können schnell reagieren, wenn es bei einem Kind Auffälligkeiten gibt. Je früher Problemlagen erkannt und professionell abgeklärt werden, desto besser ist es. Dann können zielgenau Hilfen angeboten und im besten Fall problematische Entwicklungen gestoppt werden.
Strohmeier-Wieser: Mit KISA gelingt auch ein Lückenschluss zwischen den Frühen Hilfen bis zum dritten Lebensjahr und der Schulsozialarbeit. Dazwischen klafft bisher eine Lücke. Genau das Alter zwischen drei und sechs Jahren ist aber enorm wichtig. Zum einen, weil frühzeitige Unterstützung viel Leid ersparen und Chancengleichheit fördern kann. Zum anderen, weil hier der Grundstein dafür gelegt wird, wie die Familien das Bildungssystem erleben.
Kann es nicht als Stigmatisierung erlebt werden, wenn Familien die Beratung nutzen?
Mayer: In den wöchentlichen Sprechstunden können sich Eltern aktiv an die Kolleginnen wenden, wenn sie Fragen haben. Die Beratungen sind diskret und vertraulich. Die
KISA-Kolleginnen versuchen dann abzuklären, welche Unterstützung notwendig ist. Sie machen auch klar, dass es den Eltern freisteht, das Angebot anzunehmen.
Strohmeier-Wieser: Da kann es um momentane Überforderung gehen, weil gerade in der Kleinkindzeit auf junge Familien viele Herausforderungen zukommen. Es können psychische Probleme in der Familie Hintergrund für Auffälligkeiten sein, finanzielle Themen können sich stellen. Es kann auch ganz banal darum gehen, dass Familien aus Unwissenheit Ansprüche nicht geltend machen. Die Sozialarbeiterinnen können sicher nicht alles lösen, aber sie können den Familien den Weg zu den notwendigen Hilfestellungen ebnen und sie ermutigen, die Hilfe auch anzunehmen.
Warum ist der Ansatz speziell im Kindergarten so wichtig?
Mayer: Wir wollen erreichen, dass Eltern das Bildungssystem nicht als ein „feindliches“ System wahrnehmen, in dem sie und ihre Kinder hauptsächlich mit Problemen und Scheitern konfrontiert werden. Wir möchten, dass sie Bildungseinrichtungen von Anfang an als hilfreich für die Entwicklung ihrer Kinder erleben, und dass sie die Strukturen aktiv nutzen.
Strohmeier-Wieser: Der Kindergarten ist oft die erste Bildungsinstitution, mit der Eltern zu tun haben und wo sie Rückmeldung zur Entwicklung des Kindes erhalten. Kontakt und Austausch ist deshalb ein wichtiger Bestandteil in Entwicklungsgesprächen, Workshops und Vorträgen. Auch das Personal im Kindergarten profitiert durch die professionelle Expertise der Sozialarbeiterinnen. Sie können sich auf ihre pädagogische Arbeit konzentrieren und sich darauf verlassen, dass die familiären Herausforderungen im Hintergrund gut bearbeitet werden.
Wie wird das Angebot finanziert?
Mayer: Es gab eine Förderaktion des Sozialministeriums, die den Caritasorganisationen Steiermark, Salzburg und Oberösterreich gemeinsam zugesprochen wurde. Die Diözese Graz-Seckau fördert dieses Projekt über den Prozessbereich Innovation & Entwicklung.
Strohmeier-Wieser: Und ganz starken
Rückenwind hat uns der Ideenwettbewerb der MEGA Bildungsstiftung gegeben unter dem Titel „Chancen-Fairness 2024“. Da hat unser KISA-Konzept genau gepasst und ist zu einem der drei Siegerprojekte gewählt worden. Das Finale fand im Wiener Gartenbaukino statt, es gab auch einen Publikumsentscheid – und es war unglaublich, diesen Zuspruch im Saal zu erleben. Eine ganz tolle Bestätigung für unsere Überlegungen und unseren Ansatz.
Ein Blick in die Zukunft ...
Mayer: Wir starten nun als Pilotprojekt in Graz, das knapp zwei Jahre laufen und wissenschaftlich evaluiert wird. Unser Ziel ist, dass KISA in naher Zukunft flächendeckend in der gesamten Steiermark in jedem einzelnen Kindergarten, von Radkersburg bis ins Ennstal, zum Standard gehört.
Interview: Irmgard Rieger
Kindergartensozialarbeit, ...
... kurz KISA, zielt darauf ab, psychosoziale Probleme in Familien frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern. Das Modell orientiert sich an internationalen sozialarbeiterischen Konzepten. An 19 Standorten erreichen die drei Mitarbeiterinnen des KISA-Projektes von Caritas und KiB3 über 1.000 Familien in Graz.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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