Pfingstserie Teil 3 - Melanie Wolfers
Wenn der Mensch dem Menschen zur Medizin wird

Kraftvoll leben
Nimm der Ohnmacht ihre Macht

Die Salvatorianerin Melanie Wolfers ist Seelsorgerin und Expertin für Lebensfragen und Spiritualität. In ihrer Pfingstserie zeigt die Bestseller-Autorin Hilfestellungen auf, sich von Ohnmachtsgefühlen in Krisenzeiten nicht lähmen zu lassen. Infos: www.melaniewolfers.at

„Das Leben ist das, was einem zustößt, während man gerade eifrig andere Pläne schmiedet.“ Dieser Satz von John Lennon kam mir im vergangenen Jahr oft in den Sinn. Ich hatte geplant, an meinem neuen Buch zu arbeiten, mit Freunden zu wandern, mir Zeiten der Stille zu gönnen und mit meiner Gemeinschaft schöne Stunden zu verbringen. Doch es kam ganz anders: Ein mir nahestehender Mensch hatte einen Unfall und mir war klar: „Hier bin ich gefordert!“ Kaum kam ich bei der besagten Person an, um sie zu unterstützen, packte mich eine hartnäckige Erkrankung, die mich monatelang im Griff hielt.

Ich mag das nicht, um jemanden Angst zu haben, Absprachen nicht einhalten zu können und mich elend zu fühlen. Und natürlich: Das ist ja auch alles andere als schön! Aber bisweilen habe ich mir diese mühsame Zeit noch selbst erschwert – und zwar, wenn ich mich an meine Vorstellung geklammert habe, was doch jetzt eigentlich hätte sein sollen. Denn dadurch manövrierte ich mich zielsicher in eine wachsende Unzufriedenheit hinein.

Das zurückliegende Jahr hat mich wieder neu gelehrt: Wenn ich mich auf Dauer an Unabwendbaren reibe, dann reibe ich mich auf und werde wund. Die Situation beginnt sich erst zu bessern, wenn ich aufhöre, gegen sie anzukämpfen, und mich in das Unvermeidliche füge. Auch wenn die altertümliche Formulierung „sich in eine Situation ergeben“ nach lebensfeindlicher Selbstaufgabe klingt: In ihr liegt etwas Humanes! Denn sich zu ergeben ermöglicht, sich aus einem krampfhaften Dauerkampf zu befreien und wieder offen zu werden für andere Aspekte des Lebens.

Natürlich, in einer Gesellschaft, die auf positives Denken und lösungsorientiertes Handeln getrimmt ist, kommt eine Lobrede der Ergebung fast verwegen daher. Denn wenn wir in Krisen gegenüber dem Unausweichlichen kapitulieren und unsere Ohnmacht eingestehen, dann führt dies in den Tiefpunkt der Krise. Doch die Kapitulation ist ein entscheidender Schritt, um Friedensverhandlungen zu beginnen.

Gerade das Eingeständnis der Ohnmacht kann zum unerwarteten Wendepunkt werden: Im Tiefpunkt der Krise lassen wir alle konkrete Hoffnung auf eine Wiederherstellung des alten Lebens fahren und haben noch keinen blassen Schimmer vom neuen. Und genau durch dieses Lassen kann der Tiefpunkt – wie beim Buchstaben U – zum Wendepunkt werden und sich unverhofft die Zuversicht einstellen, dass selbst in der allergrößten Not noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.

Damit verbunden: Wer das Schwere anerkennt und sagt: „Das gehört dazu!“, gewinnt neue Kraft: Er oder sie geht den ersten entscheidenden Schritt, der aus der passiven Opferrolle herausführt, und beginnt, mit dem Unvermeidlichen zu kooperieren.

All dies zeigt: Sich in eine bestimmte Situation zu ergeben, ist kein Zeichen von Kleinmut, sondern ein Akt der Selbstbehauptung mitten in einer (mehr oder weniger) schweren Krise. Konkret kann dies bedeuten: Ich erkenne die Einsamkeit in meiner Liebesbeziehung an, ohne dies der anderen Person oder mir selbst zum Vorwurf zu machen, und ich bleibe ihr wohlwollend zugewandt. Oder: Ich akzeptiere die Macht eines Schicksalsschlags und füge mich in das Unvermeidliche, ohne im Selbstmitleid zu versinken. In der Folge gewinnen wir eine neue Freiheit, unsere Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was wir tatsächlich vermögen. Wir werden wieder offen für andere Themen und Menschen und manchmal sogar dankbar für das Gute, das es immer noch gibt. Oder ganz schlicht gesagt: Hören wir auf, sinnlose Kämpfe zu kämpfen, so kommen wir besser durch den Tag und schlafen nachts ruhiger.

EINE ARZNEI AUF MENSCHLICHER BASIS
Gerade im Tiefpunkt der Krise kann es unendlich guttun, Trost zu erfahren. Doch das Wort Trost hat keine gute Presse, weil es allzu oft mit einem flachen Vertrösten verwechselt wird. Einen Hinweis, was echter Trost ist, gibt das lateinische Wort für „trösten“: consolari bedeutet wörtlich: mit dem zusammen sein, der alleine ist; der sich in seinem Schmerz isoliert fühlt. Beim consolari ist also in erster Linie unser Sein gefragt – unser Da-Sein bei der Person, die leidet; die sich einsam und verlassen fühlt. Ihr nahe sein in der Dunkelheit des Verlustes und ihre Klage aushalten. Trösten heißt, die Trauer nicht abmildern, sondern teilen.

Anders gesagt: Ist jemand bei mir, um mich zu trösten, dann ermutigt mich das, mich meiner Realität zu stellen. Ich kann den erlittenen Verlust spüren, ihn beklagen und betrauern. Trost als eine „Geborgenheit im Schlechten“ (Peter Strasser) kann mich darin stärken, dass ich Unlösbares aushalte und Schritt für Schritt in schmerzhafte Abschiede einwillige. Auf diese Weise wächst mir die Fähigkeit zu, neu anzufangen, wo alles zu Ende und verloren schien. Der Trost wirkt auch ohne Happy End: Er verwandelt nicht die Welt, sondern mich selbst. Ich werde zuversichtlicher und gefügiger, mich in die neue Realität voranzutasten. Trost ist ein Beziehungsgeschehen. Hier wird der Mensch dem Menschen zur Medizin.

PRAXISTIPP
In schweren Zeiten kommt mir manchmal der Stoßseufzer „Ach ja!“ unbewusst über die Lippen. Wird mir dies bewusst, verwandle ich diesen Stoßseufzer in ein Gebet: Im Ach halte ich Gott klagend Menschen hin, die unter Schwerem leiden, und auch meine eigene Not. Im Ja stammle ich: „Ja, dir Gott vertraue ich all die Not an – in der Hoffnung, dass nichts und niemand tiefer fallen kann als in deine Hand.“

Aus: Melanie Wolfers, Nimm der Ohnmacht ihre Macht. Entdecke die Kraft, die in dir wohnt. bene! Verlag 2023, 97–107

Autor:

martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

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