Pfingsserie Teil 7 - Melanie Wolfers
Tatkräftig hoffen
Kraftvoll leben
Nimm der Ohnmacht ihre Macht
Die Salvatorianerin Melanie Wolfers ist Seelsorgerin und Expertin für Lebensfragen und Spiritualität. In ihrer Pfingstserie zeigt die Bestseller-Autorin Hilfestellungen auf, sich von Ohnmachtsgefühlen in Krisenzeiten nicht lähmen zu lassen. Infos: www.melaniewolfers.at
„Jeden Morgen frage ich mich, warum ich überhaupt aufstehe“, erzählt der Mann, der mit zusammengesackten Schultern vor mir sitzt. Seit Monaten ist er in eine immer tiefere Lebenskrise hineingeschlittert. Er empfindet sein Leben als sinnlos und sich selbst als bedeutungslos. Eine Woche später kommt er wie ausgewechselt zum Gespräch: Seine vierjährige Tochter hat beim Spielen zu ihm aufgeschaut und ihn aus heiterem Himmel gefragt: „Papi, versprichst du mir, dass du bei mir bleibst, bis ich groß bin?“ Diese Frage und sein darauffolgendes Versprechen hätten ihm, so erzählt der Mann, das Leben gerettet. Die Einsicht, dass seine Tochter ihn braucht und das Leben eine Aufgabe für ihn bereithält, haben ihn ins Leben zurückgeholt.
Nicht nur als Kinder, sondern auch als Erwachsene sind wir auf die Erfahrung angewiesen, dass wir erwünscht sind, auch wenn wir selbst gerade verzweifeln. Dass wir für andere wichtig sind und unser Leben einen Wert hat. Doch es muss nicht immer eine Person sein, für die es einen Unterschied macht, dass es uns gibt. Es kann auch die Sorge für ein Haustier oder einen Garten sein, die einem Menschen die Kraft gibt, weiterleben zu wollen.
AUF DICH KOMMT ES AN!
Was für Grenzsituationen gilt, trifft auch grundsätzlich zu: Die Erfahrung von Ohnmacht oder Verzweiflung kann sich wandeln, wenn Menschen wahrnehmen, dass sie gebraucht werden. Persönlich ist mir dies beim Ausbruch des Ukraine-Krieges neu deutlich geworden: Bei vielen – auch bei mir – weckte der russische Angriffskrieg tiefe Ohnmachts- und Angstgefühle. Und zeitgleich schlossen sich zahlreiche Menschen zu Hilfsinitiativen zusammen, spendeten Geld und Güter oder stellten großherzig Wohnraum und Zeit für die Geflüchteten zur Verfügung. Dadurch konnte vielen Betroffenen in ihrer großen Not ein wenig geholfen werden – und das zählt!
Interessanterweise kann ein solches Engagement zugleich auch unsere eigenen Ängste mindern. Denn so wie Ohnmacht Angst gebiert, stärkt es umgekehrt das Vertrauen in sich selbst und das Leben, wenn wir erkennen: „Ich kann die Not eines Menschen etwas lindern.“ Tätig zu sein, wenn auch nur im Kleinen, hilft, Gefühlen des Kontrollverlusts zu begegnen. Kommen wir ins Handeln, dann erleben wir Wirk-Macht statt Ohn-Macht. Wir spüren: „Ich kann etwas zum Guten wenden für andere. Ich werde gebraucht.“ – Und ein solches Empfinden stärkt unser Sinnerleben und unsere Zuversicht.
In Krisenzeiten liegt die Gefahr einer Konzentration auf die eigenen Nöte besonders nahe. Doch gerade in solchen Zeiten ist es gut, bewusst über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und sich zu fragen: Wer braucht mich?
Bruder Andreas Knapp bringt in seinem Gedicht den genannten Perspektivenwechsel in einer mich berührenden Weise zum Ausdruck:
zu unserem Heil
wo bleibe ich
was bringts
wie springt für mich etwas heraus
so fragen wir
Er fragt anders
wo bleibst du
was bringe ich dir mit
wie springe ich für dich ein
es gibt Fragen
die machen krank
Seine Fragen aber
heilen die Welt
Das lyrische „Er“ in diesem Gedicht steht für Jesus von Nazareth. Von ihm erzählt die Bibel, dass er sich aus ganzem Herzen den Menschen zuwandte. Und dass Menschen in der Begegnung mit ihm heiler wurden und etwas von der Güte Gottes erahnten. In dem Maß, in dem eine Person in diese zugewandte Lebenshaltung hineinfindet, trägt sie zur Heilung der Welt bei.
DIE KRAFT DES WIR
Haben Sie schon einmal Mammutbäume gesehen? Viele, die davon berichten, schwärmen über deren Ehrfurcht einflößende Größe und ihr verblüffendes Alter. Die Redwoods können über 100 Meter hoch wachsen und mehrere 1000 Jahre alt werden. Doch das eigentlich Erstaunliche dieser Giganten liegt unter der Erde. Anders als man vermuten würde, treiben die Mammutbäume ihr Wurzelwerk nicht tief in den Boden, sondern sind Flachwurzler. Sie bilden nur etwa einen Meter tiefe Ausläufer. Aber wie gelingt es den Kolossen, dass sie ihre Größe ausbalancieren und über Jahrhunderte hinweg selbst starke Stürme und Erdbeben überstehen?
Die Lösung lautet: Kooperation. Die Bäume treiben unter der Erdoberfläche so weite Ausläufer, bis sie auf die Wurzeln anderer Redwoods stoßen. Mit diesen bilden sie ein miteinander dicht verwobenes Wurzelgeflecht. So halten und stärken sie sich gegenseitig und können gemeinsam auf diese Weise selbst Orkanen trotzen. Die eigentliche Stärke dieser Riesen erwächst also aus ihrem Zusammenhalt. Ihrer Fähigkeit, zu kommunizieren und sich gegenseitig zu unterstützen.
Die Mammutbäume zeigen uns die Kraft des Gemeinsinns: Die Bereitschaft und Fähigkeit, dass ich mich als Teil eines großen Netzwerkes begreife und darauf ausrichte. Dass ich also nicht nur das eigene Wohl im Blick habe, sondern auch das der anderen – denn letztlich macht dies alle stärker.
Erleben Menschen sich als hilflos und ausgeliefert, geht dies oft damit einher, dass sie sich in ihrem Elend mutterseelenallein fühlen. Der Sinn für die Gemeinschaft und die Verbundenheit untereinander bildet ein Widerlager zum lähmenden Gefühl der Ohnmacht. Wie sich die Bäume gewissermaßen unterhaken, können auch wir einander stützen und stabilisieren und so gemeinsam größte Stürme überstehen.
Aus: Melanie Wolfers, Nimm der Ohnmacht ihre Macht. Entdecke die Kraft, die in dir wohnt. bene! Verlag 2023, 169–179
Autor:martinus Redaktion aus Burgenland | martinus |
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