Pfingstserie Teil 5 - Melanie Wolfers
Die Kraft des Vertrauens

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Das Leben ist unberechenbar und manchmal verdammt unheimlich. Doch es gibt eine ganz ursprüngliche Kraft in uns Menschen, die uns befähigt, mit dieser bleibenden Unberechenbarkeit umzugehen, und die uns in der Not tragen kann: die Kraft des Vertrauens. Dazu eine Geschichte:

Die portugiesische Pianistin Maria João Pires sitzt auf einer Konzertbühne in Amsterdam am Flügel. Der Saal ist ausverkauft. Sie hört die ersten Takte des Orchesters, das Mozarts „Klavierkonzert Nr. 20 in d-Moll“ zu spielen beginnt – und erkennt: Ich habe ein anderes Mozart-Konzert erwartet und einstudiert als dieses!

Eine Videoaufnahme dieses legendären Konzertes hält den Schock-Moment fest, als die Pianistin dies entsetzt realisiert. Pires senkt den Kopf und schaut fassungslos nach unten; dann blickt sie hilfesuchend zu Riccardo Chailly, der hingebungsvoll dieses Konzert dirigiert, für das sie noch nicht einmal die Noten dabei hat. Leise raunt sie Chailly zu, dass sie mit diesem Konzert nicht gerechnet habe. Seelenruhig dirigiert dieser Takt um Takt, während Pires so wirkt, als ob sie gleich in Ohnmacht fällt. Es folgt ein kurzer Wortwechsel: Sie habe dieses Konzert wirklich nicht geübt, erklärt die Pianistin. Von ihrer Not scheinbar unberührt antwortet der Maestro: Sie habe das Konzert doch letzte Saison noch gespielt. Ich bin mir sicher, Sie schaffen das!

Eine atemberaubende Szene: Wie gelähmt findet sich Pires in einer Situation vor, von der sie nicht weiß, wie sie diese überstehen soll. Chailly lässt sich von ihrem Schock und ihrer Hilflosigkeit nicht aus dem Takt bringen, sondern macht ihr Mut. Und er lässt das Orchester weiterspielen! Den dann einsetzenden Wandel muss man sehen und hören: Pires blickt der Tatsache ins Auge, dass sie sich aus dieser Situation nicht herausstehlen kann, sondern spielen muss. In dem Augenblick, in dem sie sich in ihre Lage ergibt, verändert sich ihr Gesicht: Maria João Pires wirkt nun gesammelt, fokussiert. Sie gibt sich der Musik hin, ihr erstarrter Körper wird geschmeidig, sie hebt die rechte Hand – und spielt. Zart, perlend, traumwandlerisch sicher. Es ist alles da, was sie braucht!

VERTRAUEN GEHT NICHT ALLEIN
Diese Konzerterfahrung erscheint mir symbolträchtig für viele kleine und große Momente, in denen wir uns überfordert und ohnmächtig erleben – und es dann doch „irgendwie“ weitergeht. Das kann sich beispielsweise so anfühlen: Zunächst bin ich schockiert von der Situation und wie gelähmt, denn ich hatte mich auf etwas anderes eingestellt. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich sie bewältigen soll. Was für ein Geschenk, wenn in solchen Momenten Menschen an mich glauben und mein Vertrauen stärken. So wie der Dirigent mit Vertrauen antwortet: mit Vertrauen in die Fähigkeiten der Pianistin und dass sie alles in sich trägt, um die Situation zu meistern.

Hier wird etwas sichtbar, was sich immer wieder erfahren lässt: Vertraut uns eine Person und traut sie uns etwas zu, dann festigt dies unser Vertrauen in uns selbst und unsere Fähigkeiten. Gerade in Krisen – wenn sich das Selbstvertrauen so groß anfühlt wie ein Zwerg mit Hut –, tut es unendlich gut, wenn man spürt: „Da glaubt jemand an mich und daran, dass ich die Situation bewältigen kann!“

Eine weitere Stütze, wenn wir uns ohnmächtig und hilflos fühlen, ist das Vertrauen in andere Menschen; also die Erfahrung, auf andere bauen zu können. Insbesondere wenn der Boden ins Wanken gerät, kann eine tragfähige Beziehung Halt geben. Sind wir mit einer Person zusammen, der wir vertrauen, verringert sich unsere Angst und wir fühlen uns zuversichtlicher. Ganz deutlich erlebe ich dies etwa beim Bergsteigen: Eine erfahrene Bergführerin weckt in mir Zutrauen – und zwar in sie und in mich selbst, dass ich die ausgesetzten Klet-ter-Passagen bewältigen werde.

Eines steht fest: Wir können Selbstvertrauen – also das Vertrauen in uns und unsere Fähigkeiten – nicht mit uns allein ausmachen. Dazu brauchen wir andere! Ganz grundlegend gilt dies in den ersten Lebensjahren, aber auch als Erwachsene sind wir auf andere verwiesen. Daher ist es so wichtig, sich genügend Zeit zu nehmen, um tragfähige Beziehungen zu pflegen. Und sich in schwierigen Situationen in Erinnerung zu rufen: Auf welche zwei oder drei Personen kann ich bauen?

EIN SPIRITUELLER INSTINKT
Natürlich, das Vertrauen in andere kann enttäuscht werden – so wie man selbst dem Vertrauen nicht immer gerecht wird, das andere einem schenken. Und ebenso kann das Vertrauen in eigene Fähigkeiten Schiffbruch erleiden. Umso wichtiger ist es, zu unterscheiden zwischen dem Vertrauen in eine konkrete Person oder Fähigkeit und einem wortwörtlich grundlegenderen Vertrauen. Letzteres wird in der Psychologie „Urvertrauen“ genannt. Treibt uns das Leben in die Enge und sitzt uns die Angst im Nacken, dann vermögen wir dank dieser Kraft dennoch darauf zu bauen: Das Leben wird mich schon irgendwie durch den Engpass bringen – so ähnlich, wie ich durch einen engen Geburtskanal in diese Welt gekommen bin.

Aus religiöser Sicht verdankt sich dieses Vertrauen dem Gespür für eine Wirklichkeit, die größer ist als wir selbst und alles Endliche. Stehen wir mit diesem göttlichen Geheimnis in Verbindung, dann gibt dies unserem Leben Licht und Wärme. Und es ermutigt in Zeiten von Ohnmacht und Hilflosigkeit zu beherzigen, was Hilde Domin so faszinierend schön ausdrückt:

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise wie einem Vogel
die Hand hinhalten

Aus: Melanie Wolfers, Nimm der Ohnmacht ihre Macht. Entdecke die Kraft, die in dir wohnt. bene! Verlag 2023, 134–143

Die Salvatorianerin Melanie Wolfers ist Seelsorgerin und Expertin für Lebensfragen und Spiritualität. In ihrer Pfingstserie zeigt die Bestseller-Autorin Hilfestellungen auf, sich von Ohnmachtsgefühlen in Krisenzeiten nicht lähmen zu lassen. Infos: www.melaniewolfers.at

MELANIE WOLFERS, SALVATORIANERIN | Foto: Ulrik Hölzel
Autor:

martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

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