Zweiter Adventsonntag | 8. Dezember 2024
Meditation
Gesicht im Schaufenster
An kaum einem Schaufenster kann ich vorbeigehen, ohne hineinzuschauen. Was da mehr oder weniger attraktiv ausgestellt ist, brauche ich wahrscheinlich nicht, aber mir gefallen diese kleinen Inszenierungen der Warenwelt. Und ich weiß nicht, was mich mehr erfreut: Der Gedanke, dass ich mir kaufen könnte, was da präsentiert wird – oder der Gedanke, dass ich es nicht brauche.
Wenn Distanz und Lichtverhältnisse stimmen, sehe ich im Schaufenster aber nicht nur die Auslage, sondern auch mein Spiegelbild. Meist schaue ich nur flüchtig hin, fast etwas scheu. Ich weiß nicht, ob ich den Mann im Fenster mag. Ob er mir gefällt. Ob ich ihn kenne. Ihn auch verstehe. Und ihn annehme, so, wie er ist. Alles ziemlich heikel.
Sören Kierkegaard stellte mit Bedauern fest, dass niemand mehr richtig in den Spiegel schaut. Er machte dafür die geschäftige Hektik verantwortlich: „Ein Spiegel hat die Eigenschaft, dass man in ihm sein Bild sehen kann, aber dafür muss man still stehen …
Beim Stadtbummel folgt ein spiegelndes Schaufenster auf das andere. Ich sehe mein Abbild immer wieder in einer neuen Umgebung: Mal ist es umgeben von Strandkleidern, dann steht es zwischen einer Auswahl attraktiv präsentierter Handys oder vor einer Auslage mit Schinken, Salami und Mettwurst.
Während viele den Blick in den Spiegel nicht mögen, gibt es andere, die ihrem Abbild verfallen und nur sich selber sehen. Das klassische Beispiel ist Narziss. Er war sterblich in sein Bild verliebt, das sich auf der glatten Wasseroberfläche eines Sees spiegelte.
Vielleicht sind der Geschäftige, der sich nicht sehen will, und Narziss, der nur sich sehen will, näher miteinander verwandt als es scheint.
Beiden fehlt die angemessene Distanz zu sich selber. Der eine ist zu weit weg, der andere zu nah. So gelingt es beiden nicht, sich zu erkennen. Erst wo ein ausgeglichenes Maß von Nähe und Distanz gefunden ist, wird das Spiegelbild klar. Der Schritt auf mich zu und der Schritt von mir weg gehören zusammen, sagt Meister Eckhart: „Richte dein Augenmerk auf dich selbst, und wo du dich findest, da lass von dir ab.“
Lorenz Marti, Wer hat dir den Weg gezeigt? Ein Hund!, Verlag Herder, 2007.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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