Plädoyer für die Zukunft | Frage 1 | Interview
Wollen wir noch selber denken?
Selber denken, auch wenn es unbequem ist
Barbara Reiter ist am Philosophischen Institut der Uni Graz Lektorin für Fachdidaktik in Philosophie und Ethik. Davor unterrichtete sie an der Päd. Hochschule Steiermark und an der FH Joanneum Graz und hatte die wissenschaftliche Leitung bei der Erstellung des Werte- und Verhaltenskodex der Universität Graz inne. Mit Lukas Meyer leitet sie den Denkzeitraum.
Wollen wir noch selber denken?
Ganz eindeutig: Ja. Und wir wollen auch dann noch selber denken, wenn es vielleicht unangenehm und anstrengend ist.
Sie haben am Institut für Philosophie das Projekt „Denkzeitraum“ mit initiiert: Worum geht es dabei?
Genau darum, dass wir gemeinsam denken. Das Projekt hat vor zehn Jahren innerhalb einer Ausstellung am Schlossberg begonnen und ist danach weitergeführt worden. Der Grazer Uhrturm ist ja ein sehr schönes Beispiel für die öffentliche Durchdringung des Zeitraums. Die Menschen gestalten die Zeit selber. Auch das Denken müssen wir selber übernehmen, niemand anderer tut es für uns. Das üben wir bei diesem Projekt in der Öffentlichkeit mit verschiedenen Gesprächspartnern.
Verändert sich durch die Zeit das Denken?
Ist unser Denken immer noch das Gleiche wie bei Platon und Aristoteles? Das Denken verändert sich, weil wir uns verändern und weil die Umgebung sich verändert, weil wir unsere Umgebung verändern und die Umgebung uns verändert. Die geschichtliche Kontinuität ist ganz wichtig, sonst hätte es keinen Sinn, sich heute mit den Vorsokratikern oder mit Kant zu beschäftigen. Aber das Denken verändert sich, weil wir anders auf sich ändernde Umstände Bezug nehmen müssen. Wir wissen heute mehr über die Welt, wir wissen durch die Globalisierung mehr über ferne Länder.
Heute sind Digitalisierung und künstliche Intelligenz im Vormarsch. Wird uns dadurch das Denken immer mehr abgenommen?
Da vertrete ich einen Humanismus. Ich denke nicht, dass die Menschen in ihrem Denken durch Maschinen abgelöst werden. Und wenn, dann merken wir es nicht, weil es dann nicht mehr unser Denken ist. Das, was Denken ausmacht, beinhaltet wesentlich einen Selbstbezug, den wir nicht aus der Hand geben können.
Kann man es so sehen, dass bestimmte Bereiche des Denkens ausgelagert werden?
Wenn ich Genom-Sequenzierungen mache oder wenn ich bestimmte Krebsarten präzisieren will, dann kann eine künstliche Intelligenz das sehr viel schneller tun und helfen, herauszufinden, wie eine Krankheit erkannt und behandelt werden kann. Da würde ich sagen, das möchte ich gerne auslagern. Wenn es darum geht, Rechenaufgaben schneller und ohne Fehler zu lösen, dann ist das eine Hilfe. Wir werden auch nicht mehr darauf verzichten wollen, Suchmaschinen im Internet zu benützen. Dadurch können wir Zeit gewinnen. Die Frage ist aber: Sind wir in der Lage, diese Zeit besser einzusetzen? Die Herausforderung ist, dass wir das Denken benützen und ein Umdenken herbeiführen. Was können wir mit der gewonnenen Zeit sinnvoll anfangen? Da scheint mir noch Luft nach oben zu sein. Aber der menschliche Körper mit seiner Sinneswahrnehmung, die er rasend schnell verarbeiten kann, ist noch immer etwas, das wir nicht nachbauen können. Als Humanistin sage ich: Computer können viel, aber sie werden nie so werden wie wir als Menschen.
Es liegt auch in der Verantwortung des Staates zu entscheiden, was wir an künstliche Intelligenzen delegieren wollen und wo wir einen Riegel vorschieben. Es muss uns klar werden, dass wir das selbst bestimmen, sowohl als Individuum, wie weit wir digitale Technologie in unser Leben lassen, aber auch als Gesellschaft, wie weit wir bereit sind, Daten zu sammeln und von Maschinen verarbeiten zu lassen. Bei dieser Diskussion sind wir noch lange nicht am Ende. Durch die sozialen Netzwerke, die uns erinnern, wer wann Geburtstag hat und vieles andere, haben wir ja jetzt schon den Großteil unseres Großhirns an das Internet übergeben. Da habe ich auch keine Lösung. Es wird wohl darauf ankommen, dass wir Selbstvertrauen haben und sagen: Ich denke selber. Da würde ich mich gerne auf Immanuel Kant beziehen und fragen: Sind wir zu faul oder zu feige, selbst zu denken? Wir sind sicher auch in einer selbst verschuldeten Unmündigkeit und lassen uns gerne das Denken abnehmen. Das sollten wir nicht tun, sondern mit mehr Verantwortung vorgehen und auch mit mehr Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge, die wir zwar gerne abgeben, die uns aber in Wirklichkeit später fehlen in der Verankerung im Alltag, im Umgang mit anderen Menschen, wenn es darum geht, freundlich zu sein, anderen zuzuhören. Wir verbringen vielleicht mehr Zeit mit dem Computer als nötig, weil wir wissen, dass die sozialen Medien immer irgendwie reagieren auf uns. Da wäre es vielleicht besser, wenn wir uns mehr direkt um andere Menschen kümmern würden.
Im Zuge der Corona-Krise gibt es fast täglich neue Vorschriften und Verhaltensregeln. Werden wir als Bürger immer mehr entmündigt?
Dieser Trend ist natürlich an die Krise gebunden. Ich gehe davon aus, dass die Corona-bedingten Einschränkungen nicht von Dauer sein werden. Vielleicht liegt das daran, dass ich chronisch optimistisch bin. Ich mag mir das nicht vorstellen, dass wir in einer Dauerüberwachung bleiben. Dass wir zum Selbstschutz als Gesellschaft eine Zeitlang teilweise unsere Bürgerrechte einschränken, das lässt sich manchmal nicht vermeiden. Aber natürlich ist es wichtig, dann wieder zurückzukehren zu einer Normalität, die das nicht mehr enthält. Und das merkt man auch nur, wenn man darüber nachdenkt. Wir sollten nicht gleichgültig sein, sondern wach bleiben, die Augen offenhalten und das, was wir wahrnehmen, verarbeiten und handeln, wenn wir merken, dass etwas nicht so gut läuft.
Glauben Sie, dass die derzeitige Krisenerfahrung ein Umdenken nach sich ziehen wird?
Umdenken ist etwas, das wir immer tun sollten. Das Wort ist interessant. Ich kann entweder etwas umdenken so wie ich etwas umfahre, ich kann es vermeiden an böse Dinge zu denken, damit es mir wieder gut geht. Dann gibt es aber noch das Umdenken im Sinne von Drüberfahren, Überrollen. Das wollen wir auch nicht. Es geht um ein Neu-Denken. Denken ist extrem situationsabhängig. In diesem Wach-Sein kommt es heraus. Was wir beibehalten sollten, sind die positiven Erfahrungen in der Corona-Krise. Ich fand es toll, dass wir wieder Zeit hatten, weil wir nicht mehr überall hingingen. Es gab natürlich ganz viele Probleme in dieser Zeit, das will ich nicht schön reden, aber es gab auch ein Besinnen auf das Wesentliche. Es sind ganz prinzipielle Fragen, die wir uns in der Krise stellen: Was brauche ich wirklich? Was tut mir gut? Es hat sich etwa gezeigt, dass Berufe, die wir gesellschaftlich nicht honorieren, weder mit Geld noch mit Anerkennung, eigentlich das Rückgrat unserer Gesellschaft sind. Das wünsche ich mir, dass das bleibt. Wir genießen jetzt die Erfahrung, sich sehen zu können, sich berühren, sich die Hand geben zu können. Wir merken, dass uns das wichtig ist. Ich hoffe nicht, dass diese Verbotsmentalität bleibt. Wenn die Corona-Krise da ein Nachdenken oder Umdenken ausgelöst hat, dann war das einer der positiven Nebeneffekte.
Wie verhalten sich Denken und Glauben zueinander?
Das ist eine echt schwierige Frage. Glaube bedeutet, dass es ganz tiefliegende, aus dem Inneren kommende Motivationen gibt, etwas zu tun. Etwa die Verbundenheit mit meinen Mitmenschen in der Familie oder solchen, denen ich begegne, mit denen ich empathisch kommunizieren kann. Das würde ich eher mit Glauben verbinden. Das ist etwas sehr Wichtiges und es sollte auch ein Teil des Denkens sein, damit ich andere verstehe und mit ihnen kommunizieren kann.
Was soll die Kirche zur Bildung beitragen und in gesellschaftliche Denkprozesse einbringen?
Ich habe eine sehr große Bewunderung für die Leute in der Kirche, die sich mit anderen Menschen befassen, die Pflege übernehmen, die Kommunikationsangebote stiften, die Denkanstöße geben in Kirchenräumen und in öffentlichen Räumen. Ich finde etwa die Bemalung der Andrä-Kirche in Graz großartig, dass ein Teil des öffentlichen Raumes als Projektionsfläche für Denken benützt wird und Denkanstöße gibt. Das andere ist das Zwischenmenschliche. Ich habe sehr viele Freunde, die religiös sind, die mich menschlich einfach beglücken. Es macht mich fröhlich, mit diesen Menschen zusammen zu sein, weil sie freundlich sind, ohne etwas zu erwarten. Das ist eine Tugend, die ich für extrem wichtig halte. Es ist eine Welt, die wichtig ist, die fern vom rein neoliberalen Denken einen Kontrapunkt gibt, wo man sich auf sich selbst besinnt und auf die Verbundenheit mit anderen. Für viele Menschen ist das die Kirche.
Acht Fragen
Jubiläen zu begehen hat nur Sinn, wenn zugleich „nach vorne“ gedacht wird. So hat auch unsere Diözese anlässlich des 800-Jahr-Jubiläums 2018 in einem breiten Diskurs acht Fragen unter das Motto „Glauben wir an unsere Zukunft?“ gestellt.
>Wollen wir noch selber denken?
>Ist Armut unfair?
>Was würdest Du morgen zurücklassen?
>Rettet Schönheit die Welt?
>Wo brauchen wir Grenzen?
>Wer hat die richtige Religion?
>Muss ich heute Angst haben?
>Wie viel Macht hat eine schwache Kirche?
Die Serie wird begleitet durch die Online-Kolumne „Mitten im Leben“, in der Menschen aus ihrem Alltag im Zusammenspiel mit der jeweiligen Frage berichten. – www.katholische-kirche-steiermark.at/mittenimleben
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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