Heilsam leben - mit Hildegard von Bingen | Teil 03
Von Dinkelbrei und Chalzedon
Hildegard von Bingen sorgte als Äbtissin auch für die Versorgung der Kranken im Kloster und seiner Umgebung. Sie war dafür besonders geeignet, weil ihre Wahrnehmungsfähigkeit infolge ihrer „visionären Begabung“ stärker ausgeprägt war; sie sah „tiefer“, als dies gewöhnlich der Fall ist. In der Ausübung ihres „ärztlichen Berufes“ stand sie allerdings auch in einer langen, bis in die Antike zurückreichenden Tradition. Die Wege, auf denen man damals heilende Kräfte in der Natur entdeckte, erscheinen uns heute merkwürdig und fremd, aber sie überraschen uns häufig mit der Richtigkeit ihrer Ergebnisse.
Experimentell und fabulös. Ursprünglich waren ihre medizinischen und naturkundlichen Schriften in einem einzigen Werk zusammengefasst. Heute ist uns Hildegards medizinisches Wissen in zwei Büchern überliefert, der „Naturkunde“ und der „Heilkunde“. In der Naturkunde beschreibt Hildegard jeweils genau die Qualität der Pflanzen, Kräuter und Steine, ihre Eigenschaften und ihren Nutzen für den Menschen, eventuell verbunden mit Hinweisen für die Verarbeitung als Medikament. Wenn sie etwas aus eigener Anschauung kennt, sind ihre Beschreibungen sehr genau. So hat sie zum Beispiel die Fischlandschaft in Nahe, Glan und Rhein so präzise beschrieben, wie es bis in die Neuzeit hinein nicht wieder vorgekommen ist.
Wo Hildegard nicht auf eigene Beobachtungen zurückgreifen kann, kolportiert sie unbekümmert die im Mittelalter kursierenden Fabeln. So schreibt sie etwa über das Einhorn, dass es nur von einer gut aussehenden adeligen Jungfrau gefangen werden könne; eine These, die sie beim Anblick des mittlerweile als Nashorn identifizierten Tieres und der Beobachtung seiner Lebensgewohnheiten vielleicht nicht unbedingt aufrechterhalten hätte.
Gut sortiert und treffsicher. Ihre „Heilkunde“ beschreibt eine Fülle damals bekannter Krankheiten in Verbindung mit entsprechenden Therapievorschlägen. Die Zusammenstellung der Rezepturen ist bemerkenswert vernünftig und praxisorientiert. Aus der reichen Anzahl an möglichen Indikationen für ein Heilkraut findet sich in den Schriften Hildegards in der Regel eine Beschränkung auf wenige sinnvolle Anwendungsbereiche, deren Wirksamkeit heute häufig aufgrund von chemischen Analysen neu erkannt wird. Ein Beispiel hierfür ist die Klette, die Hildegard als harntreibendes Mittel, sowie äußerlich anzuwenden, als Medikament bei neurodermitisähnlichen Hauterkrankungen anführt. Untersuchungen haben ergeben, dass diese Pflanze Stoffe enthält, die die Bakterienbildung und den Pilzbefall hemmen und so den therapeutischen Effekt bei Ekzemen, Flechten oder schuppigen Hauterkrankungen erklären.
Die Wurzeln der Homöopathie. Ein wichtiger medizinischer Grundsatz der mittelalterlichen Medizin, den die Homöopathie wieder aufgegriffen hat, war: Gleiches heilt. Die Ähnlichkeit von Krankheit und Heilkraut besteht beispielsweise bei der von Hildegard angewendeten Behandlung von Herzstechen durch die Mariendistel. Das stechende Kraut sollte hier die stechenden Schmerzen beheben. Diese Sichtweise erscheint uns wenig einleuchtend, doch sind wir heute eingeladen zu lernen, dass es noch andere Weisen der Wahrnehmung gibt als die analytisch forschende des wissenschaftlich-technischen Zeitalters. In Bezug auf die Mariendistel heißt dies: Aus den Samen dieser Pflanze kann ein Wirkstoffkomplex, das Silymarin, isoliert werden, der in der Tat gegen Beschwerden wie Seitenstechen hilft und zudem eine Schutzwirkung für die Leber hat. Dass Hildegard sich auf Indikationen beschränkt, deren Wirksamkeit sie beobachtet hat, spricht für die Praxisorientierung ihrer medizinischen Schriften.
Verschiedene Quellen. Vielfach beschreibt Hildegard Rezepturen, die zum allgemeinen Traditionsgut der antiken und mittelalterlichen Medizin gehören. Andere Therapievorschläge tauchen erstmals bei ihr auf, sodass man auf Einflüsse volksmedizinischer Überlieferung oder eigene Erfahrung und Erkenntnis schließen kann.
Ein sehr praxisnahes Beispiel hierfür ist ihr Hinweis, dass man die Stacheln der Brombeere bei geschwollenem und vereitertem Zahnfleisch zum Aufritzen desselben anstelle eines Abszessmessers gebrauchen könne. Möglicherweise kann man in diesem Vorschlag ein Unterlaufen des seit den 30er Jahren des 12. Jahrhunderts geltenden Verbotes für Mönche und Nonnen, chirurgische Eingriffe vorzunehmen, sehen.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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