Die Kunst des Vergebens | Teil 02
Mensch, ärgere dich nicht
Ob auch Sie manche der folgenden belastenden Erfahrungen kennen? Von einem Vorkommnis tief gekränkt, finde ich mich immer wieder in einer wütenden inneren Zwiesprache mit dem Übeltäter vor – ob ich nun auf den Bus warte, den Computer hochfahre, Zeitung lese …
Oder ich tröste mich mit wilden Fantasien darüber, was ich alles mit ihm anstellen könnte. Möglicherweise wälze ich mich auch schlaflos im Bett, und mein Ärger wird immer ärger. Am Ende ärgere ich mich sogar noch darüber, dass ich mich so ärgere.
Sich „richtig“ zu ärgern ist nicht leicht. Viele tun sich schwer mit Ärger und Wut und vermeiden diese unangenehmen Gefühle. Doch aggressive Empfindungen ausschließlich negativ zu beurteilen, ist eine verkürzte und einseitige Sicht. Denn sie haben lebenswichtige Funktionen – gerade und besonders in Konflikt- und Kränkungssituationen!
Ärger motiviert
Es ist nicht nur normal, sondern auch gesund, mit Ärger zu reagieren, wenn Sie angegriffen werden. Denn der Ärger motiviert dazu, dass Sie für Ihre Selbstachtung kämpfen und sich schützen. Er funktioniert wie eine Art Bewegungsmelder, der bei Grenzüberschreitungen eine Sirene auslöst. Diese warnt Sie, wenn Ihnen jemand zu nahe tritt und in Ihren persönlichen Lebensbereich eindringt. So macht Sie der Ärger darauf aufmerksam, dass Sie Ihre Grenzen neu definieren, erweitern oder „einfach nur“ verteidigen müssen. Und er befähigt Sie, den Eindringling in seine Schranken zu verweisen, zum Beispiel indem Sie Ihre eigenen Bedürfnisse oder Werte wahrnehmen und im richtigen Augenblick „Stopp!“ sagen.
Hier wird deutlich: Ärger steht auch im Dienst gelingender Beziehungen. Denn im Zusammenspiel mit Zuneigung und Liebe versetzt er uns in die Lage, das Verhältnis von Nähe und Distanz richtig auszubalancieren. Darüber hinaus gibt er die Kraft, Kommunikationshindernisse aus dem Weg zu räumen. Auch wenn es auf den ersten Blick erstaunlich erscheint: Ein gut adressierter Ärger drückt aus, dass der andere uns nicht gleichgültig ist, sondern dass uns an der Beziehung etwas liegt. Die Angst davor, Schmerz und Ärger zu zeigen, droht eine Beziehung schleichend zu zerstören, wohingegen Freundschaft oder Liebe sich vertiefen können, wenn auch der Zorn seinen Raum hat.
Fähig zur Ent-Rüstung
Sind wir gekränkt worden und wollen wir einen Weg der inneren Aussöhnung gehen, dann gibt es keinen Schleichweg an Wut und Ärger vorbei. Erst wenn wir unsere Entrüstung zulassen – wenn wir unseren empörten Gefühlen bewusst zuhören und mit ihnen „ins Gespräch kommen“ –, erst dann werden wir fähig zur Ent-Rüstung. Erst dann werden wir unsere Munition – etwa in der Form von Vorwürfen, Beschuldigungen oder Vergeltungsmaßnahmen – wirklich ablegen können. Alles andere wäre lediglich ein fauler Friede.
Zwischen Misskredit und Heiligenschein
Doch nicht zu Unrecht besteht der Vorwurf, dass die christliche Botschaft von der Vergebung missbraucht worden ist, um Empfindungen wie Wut und Zorn um des „lieben Friedens willen“ aus dem Gefühlsrepertoire zu streichen. In christlichen Kreisen haben Ärger und Wut oft kein Heimatrecht.
Dieser „Harmonieterror“ hat geschichtliche Wurzeln: Im Widerspruch zum ganzheitlichen Menschenbild der Bibel gerieten im Lauf der Zeit bestimmte Gefühle in Misskredit. Vor allem Empfindungen wie Ärger, Zorn und Wut wurden mit Sünde gleichgesetzt, die ein himmlisches Donnerwetter nach sich zieht. Solche aggressiven Impulse dürfen gar nicht erst „hochkommen“, wohingegen Sanftmut oder Friedfertigkeit als christliche Ideale mit einem Heiligenschein umgeben werden.
Doch das ist aus mehreren Gründen eine einseitige Sichtweise. Zum einen fallen die lebensförderlichen und konstruktiven Seiten der Aggression völlig unter den Tisch. Zum anderen werden problematische Aspekte von Freundlichkeit und Sanftmut – zum Beispiel ängstliche Harmonisierung und Konfliktvermeidung – übersehen. Die Urkunde des christlichen Glaubens – die Bibel – spricht da eine ganz andere Sprache!
Ohne Masken und Filter
Die Psalmen, das klassische „Gebetbuch“ der Bibel und auch der Person Jesu, ermutigen dazu, dass wir unsere Masken und Filter vor Gott ablegen. Dass wir alles zum Ausdruck bringen, was wir empfinden – ganz im Sinne von Martin Luther, der betont: „Das ist das Wichtigste am Gebet: dass der Mensch wenigstens dort nicht lügt.“ Wenn wir unsere Hassgefühle und Rachefantasie ins Gebet nehmen, geben wir ihnen nicht das letzte Wort. Vielmehr lassen wir sie los in der Hoffnung, dass jenseits aller Dinge ein Herz ist, das alle Widersprüche vereinen kann (Graham Greene).
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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