Quelle des Segens - Schritte zu einer lebendigen Liturgie | Teil 12
Liturgie als Stellvertretung
In jeder Eucharistiefeier ist die Weltkirche mit allen lebenden und verstorbenen Christen beteiligt.
Im Jänner des Jahres 1981 verbrachte ich einige Tage in Jerusalem als Gast der Benediktinerabtei auf dem Berg Sion. Damals war ich Hochschulseelsorger in Graz, und Pater Daniel Gelsi, ein Benediktiner, der Jahre vorher mein Mitarbeiter in der Grazer Katholischen Hochschulgemeinde gewesen und nun als Professor der Liturgiewissenschaft mit besonderer Ausrichtung auf die Kirchen des Ostens in Rom und Jerusalem tätig war, hatte mich nach Jerusalem eingeladen.
Am Vorabend des Festes Epiphanie lud mich der Pater ein, ihn zum Vespergottesdienst in die russisch-orthodoxe Mission zu begleiten. Diese liturgische Feier dauerte fast drei Stunden unter Aufbietung aller Pracht und Herrlichkeit an Gesang, liturgischen Gewändern und Dramaturgie, obwohl die Zahl der Mitfeiernden sehr klein war: ein Erzpriester, ein Diakon und fünf Nonnen feierten entsprechend dem Ritus der russisch-orthodoxen Kirche. Unter den zehn anderen Anwesenden war kein einziger orthodoxer Christ. Damals war die russisch-orthodoxe Mission in Jerusalem durch Telefonterror, begleitet von Morddrohungen, sehr eingeschüchtert. Diese Furcht war begründet, weil kurz vorher ein orthodoxer Mönch, der allein ein einsames Heiligtum im Süden des Landes hütete, auf grausame Weise ermordet worden war. Die Täter wurden nie ausgeforscht. Andererseits standen die Geistlichen der russischen Mission unter dem Druck des sowjetischen Geheimdienstes. Trotzdem wurde in der kleinen Jerusalemer Kirche eine prachtvolle Liturgie ohne jede Nachlässigkeit gefeiert. In Erinnerung an den oft nachlässigen Umgang mit Liturgie in der katholischen Kirche fragte ich Pater Gelsi, wie denn diese kleine Gemeinde in Jerusalem eine solche Spannung aushalten könne, ohne nachlässig zu werden. Die Antwort lautete: „Sie vertreten ganz Russland an den heiligen Stätten im Heiligen Land, und das hält sie aufrecht.“
An diesem Abend ist mir besonders stark in Erinnerung gerufen worden, dass Liturgie auch viele, ja unzählige Menschen einbezieht, die dabei nicht anwesend sind. An jeder der unzähligen Eucharistiefeiern an unzähligen Orten der Erde ist ja die ganze Weltkirche beteiligt mit allen lebenden und mit allen verstorbenen Christen. Das kommt in vielen Texten der Liturgie zur Sprache. So werden auch immer der Papst und der Bischof mit Namen genannt, um zu verhindern, dass sich eine Ortsgemeinde in sich selbst verkapselt.
Die zu einer Liturgie in oft kleiner Zahl Versammelten beten immer mit der ganzen Weltkirche. Sie sind ein kleiner Teil jenes riesigen Chors, der an jedem Tag, wie in der Botschaft der Bischöfe aus sieben Ländern beim Mitteleuropäischen Katholikentag in Mariazell im Mai 2004 gesagt wurde, „Gott eine lobende, dankende und bittende Antwort“ gibt auf das Wort, „das er durch Schöpfung und Erlösung immer neu zu uns spricht“.
Die zu einer Liturgie versammelte Gemeinde betet dabei aber nicht nur mit der ganzen Christenheit, sondern auch für die ganze Christenheit und darüber hinaus für die ganze Menschheit. Sie betet also stellvertretend auch für Menschen, die Christus nicht oder noch nicht kennen. Das kommt besonders in den großen Fürbitten der Karfreitagsliturgie zum Ausdruck. So im Gebet für alle Anliegen der Christenheit. In der Formulierung des Messbuches lautet es sprachmächtig: „Lasst uns Gott, den allmächtigen Vater, bitten für alle, die der Hilfe bedürfen: Er reinige die Welt von allem Irrtum, nehme die Krankheiten hinweg, vertreibe den Hunger, löse ungerechte Fesseln, gebe den Heimatlosen Sicherheit, den Pilgernden und Reisenden eine glückliche Heimkehr, den Kranken die Gesundheit und den Sterbenden das ewige Leben.“ Und bei der Darbringung des Kelches mit Wein wurde in der Liturgie des Messbuches vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil als Bitte an Gott gesagt: „Lass ihn (den Kelch) uns zum Segen und der ganzen Welt zum Heil (sein).“
So betrachtet stand auch die kleine orthodoxe Gemeinde in Jerusalem am Vorabend des Festes Epiphanie nicht nur für die Kirche in Russland stellvertretend vor Gott, sondern für die ganze Menschheit, und dies gilt auch für eine kleine katholische Gemeinde, die bei einer Wochentags- oder Sonntagsmesse versucht sein kann, verzagt zu fragen, warum so viele Getaufte im Pfarrsprengel der Liturgie und dem Glauben überhaupt fremd gegenüberstehen.
Dr. Egon Kapellari, Diözesanbischof
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.