Heilsam leben - mit Hildegard von Bingen | Teil 05
Gut und Böse im Gespräch

In vielen mittelalterlichen Kirchen finden sich über den Kirchentüren Darstellungen vom Weltgericht. Sie sollen Kirchenbesucher daran erinnern, dass sich Glaube im Alltag bewähren muss – unabhängig von Rang und Stand.  | Foto: Stühlmeyer
  • In vielen mittelalterlichen Kirchen finden sich über den Kirchentüren Darstellungen vom Weltgericht. Sie sollen Kirchenbesucher daran erinnern, dass sich Glaube im Alltag bewähren muss – unabhängig von Rang und Stand.
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Hildegard begann 1158 mit ihrem zweiten Visionswerk „Liber vitae meritorum“ (Der Mensch in der Verantwortung) und arbeitete fünf Jahre daran. Der Grund für die Niederschrift einer praxisbezogenen Ethik lag auf der Hand. Der Streit zwischen Kaiser und Papst lähmte die Gesellschaft, und auch in der Kirche stritt man darüber, wo der rechte Weg verläuft. Auf ihren Predigtreisen und Klöster-Visitationen hatte die Benediktinerin hautnah erlebt, vor welchen Schwierigkeiten die Menschen standen. Die Probleme im Umgang mit Regeln waren offensichtlich. Viele hatten das Gefühl dafür verloren, von welchen Kräften sie sich leiten ließen. Hildegards „Rezept“ gegen die allgemeine Orientierungslosigkeit war ebenso einfach wie wirkungsvoll. Sie brachte die widerstreitenden Kräfte miteinander ins Gespräch.

Den Alltag in Ordnung bringen. In der Psychotherapie kennen wir heute ganz ähnliche Konzepte. So etwa lernen wir in der so genannten Familienaufstellung unsere Funktion in dem sozialen Netzwerk kennen, das uns am meisten prägt. Indem wir den einzelnen Rollen, die wir im Leben spielen, eine Stimme geben, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Fragen formulieren, können wir einen Ausgleich der Interessen und eine Versöhnung einander widersprechender Ansprüche erreichen. Hier setzt Hildegards Ethikkonzept an. Sie gibt den positiven und negativen Kräften eine Stimme, lässt sie quasi laut reden. Spannend für uns heute ist, wie unmittelbar wir in den Lastern, die sie zu Wort kommen lässt, gute alte Bekannte entdecken, während die Tugenden uns ungleich sperriger erscheinen. Im Echo, das die Worte der einzelnen Kräfte in uns hervorrufen, lernen wir unseren Standort besser kennen, können orten, welche von ihnen unser Leben bestimmen, um dann darüber zu entscheiden, ob der Raum, den sie sich genommen haben, mit dem übereinstimmt, den wir ihnen zugestehen möchten.

Die neue Perspektive. Hildegards Ethikbuch hat sechs Teile. Im Gegensatz zu ihren anderen Visionswerken durchzieht eine einzige Schau das gesamte Buch. Das, was sie sieht, wird aber in jedem Teil des Werkes aus einer anderen Perspektive betrachtet. Wäre der „Liber vitae meritorum“ eine Komposition, würde man seinen Aufbau als „Thema mit Variationen“ bezeichnen. Durch den Perspektivenwechsel erscheint das eine Bild jedes Mal in einem anderen Licht. Die Sechszahl seiner Teile hat auch eine symbolische Bedeutung. Sie bezieht sich auf das Christusmonogramm. Das griechische Chi und Rho (Anfangsbuchstaben von Christos) sehen in der lateinischen Schrift wie X und P aus und bilden, ineinander verschlungen, sechs Arme. Was Hildegard damit ausdrücken will, ist: Der innere Bezugspunkt all unseren Bemühens ist Christus. Von ihm haben die positiven Kräfte ihre Energie, und in seiner Kraft können wir die negativen Einflüsse überwinden.

Die Kräfte ins Spiel bringen. Als Hildegard ihr Ethikbuch schrieb, hatte sie bereits einige Erfahrung mit der praktischen Umsetzung des Ausgleichs der inneren Kräfte. In ihrem „Ordo virtutum“ hatte sie die Tugenden, die Laster und ihr Ringen um die Seele bereits wirkmächtig inszeniert. Thema dieses musikalischen Theaterstückes ist ein exemp-larischer Lebensweg. Protagonisten sind die Seele, 15 Kräfte, die Heiligen des Alten Bundes und der Teufel, der als Diabolus, als Durcheinanderwerfer, bezeichnet wird. In dem fünfteiligen Spiel erlebt die zunächst glückliche Seele, wie schwer der gute, zu Gott führende Weg sein kann. Zermürbt öffnet sie sich für die Argumente des Durcheinanderwerfers, der sie auffordert, den engen Weg der Tugend zu verlassen und es sich auf dem breiten Weg bequem zu machen. Die guten Kräfte zeigen sich im innersten Kern des Spiels der hoffnungslosen, in sich verkrümmten Seele, und es gelingt ihnen, sie nach und nach aufzurichten.

Lebenshilfe im Kloster. Das Spiel der Kräfte wurde von Hildegard und ihren Schwestern im neu errichteten Kloster auf dem Rupertsberg aufgeführt. Der Konvent hatte zu dieser Zeit eine schwierige Phase hinter sich. Der Klosterneubau hatte von den Schwestern Verzicht auf zahlreiche Annehmlichkeiten verlangt. In der ersten Zeit lebten die Nonnen ohne Heizmöglichkeiten in Holzhütten und arbeiteten selbst auf dem Bau mit. Einige der adeligen Frauen konnten sich damit nicht arrangieren. Es kam zu Streitigkeiten, und viele verließen das Kloster. Die Konzentration auf die guten, die Gemeinschaft aufbauenden Kräfte und ihre wirkmächtige Inszenierung hatte für Hildegard und ihre Schwestern also durchaus einen Sitz im Leben.

Autor:

SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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