Zeitdiagnose | Teil 10
Dienen oder sich bedienen
Sigmund Freud war noch fest davon überzeugt, dass Religiosität eine psychische Krankheit sei. Vor dem Hintergrund eines materialistischen Wissenschaftsdogmas, das einerseits von Technik- und Machbarkeitsglauben geprägt war, und einer Psychologie, die in ihren Analysen stets von Defizit-erfahrungen – vorzugsweise Eltern, Lehrer, Kirche – ausgegangen ist, überrascht das nur wenig.
Religion tut der Psyche gut
Für Raphael Bonelli, den international renommierten Wiener Psychiater, der vor kurzem Referent im Bildungshaus Mariatrost war, ist dies längst überholt. Spätestens mit Martin Seligman und seinem Konzept der „positiven Psychologie“ sind es nicht mehr die Defizite, sondern viel mehr die Ressourcen, die entscheidend für das individuelle Seelenleben sind. Und hier wiederum sind es primär die klassischen „Kardinaltugenden“, vor allem aber auch der persönliche Glaube, die zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen. Mittlerweise, so Bonelli, zeigen drei Viertel aller dahingehenden Studien, dass Religion der Psyche gut tue: „Das ist keine These mehr, das ist ein Faktum!“
Auch die Untersuchungen von Robert Cloninger, wie Seligman US-amerikanischer Psychiater, bestätigen dies. Für ihn manifestiert sich psychische Gesundheit in den drei Faktoren Selbstmanagement, Beziehungsfähigkeit und Selbsttranszendenz. Nur wer in der Lage ist, sich selbst nicht als Maß aller Dinge zu sehen, bereit ist, an ein Größeres zu glauben, ist letztlich frei und nicht verhaftet im beziehungslosen Ich.
Doch, so Bonelli, immer mehr Menschen sind gefangen in einem letztlich nie erfüllbaren Perfektionismus, sie definieren sich fast ausschließlich über ihre Leistung, machen sich von der Wertschätzung ihrer Umgebung abhängig und haben vor nichts mehr Angst als vor Kritik. Nur was herzeigbar ist, gilt als wichtig, Familienarbeit gehöre hier beispiels- und bedauerlicherweise nicht dazu.
Das alles darf aber nicht als Appell zur Faulheit oder zur Nachlässigkeit missverstanden werden. Natürlich soll immer das Bestmögliche erreicht werden, aber eben auch nicht mehr. Der deutsche Individualpsychologe Fritz Künkel findet hier den wesentlichen Unterschied im jeweiligen Motiv: Ist unser Tun Ausdruck einer „sachlichen“ Zielsetzung oder bloß ein Wollen, das einer „Ichhaftigkeit“ geschuldet ist?
Hingabe an etwas Größeres
Dies alles gilt selbstverständlich auch für jeden persönlichen Glauben. Hier sei es sinnvoll, so Bonelli, zwischen einer extrinsischen und einer intrinsischen Religiosität zu unterscheiden. Erstere ist von der Haltung geprägt, was die anderen über einen denken, letztere ist eine lebendige Hingabe an etwas Größeres. Oder auf den Punkt gebracht: Die einen bedienen sich der Religion, die anderen dienen ihr.
Wer glaubt, hat es leichter, gelassen durch das Leben zu gehen. Da jede Beziehung zu Gott notwendigerweise eine asymmetrische ist – mit Gott kann man nicht auf Augenhöhe sein –, sind Perfektionismus und echter Glaube unvereinbar. Denn der gläubige Mensch ist „geborgen in der Liebe und gehalten im Sein“, so Raphael Bonelli zusammenfassend.
Hans Putzer
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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