Gerecht leben - Fleisch fasten. 2014 | Teil 04
Barmherzigkeit, nicht Opfer
In der christlichen Tradition haben Opfer und Verzicht einen hohen Stellenwert. Gerade in der Fastenzeit wird den Gläubigen der Verzicht auf Zigaretten und Süßigkeiten, Kaffee und Alkohol empfohlen oder – um es paradox auszudrücken – schmackhaft gemacht. Auch der Verzicht auf Auto, Fernsehen oder Handy wird als lobenswertes Fastenopfer dargestellt. Und das Fleischfasten sowieso.
Die Einübung des Verzichts ist grundsätzlich etwas Gutes, denn es ist schwer zu leug-nen, dass die Menschen in der heutigen Konsumgesellschaft wieder Selbstbeschränkung und Selbstdisziplin erlernen sollten. Selbstdisziplin ist jedoch kein spirituelles Bodybuilding, kein Instrument egoistischer, gar narzisstischer Selbstvervollkommnung. Selbstdisziplin steht vielmehr im Dienst eines guten und gelingenden Lebens für alle und jeden Einzelnen. Es gründet in authentischem Mitgefühl, nicht in verkniffener Askese: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer.“
Mitgefühl erstreckt sich auf alle Wesen, auf Menschen und Tiere. Mitgefühl kann dazu führen, dass Altruismus und Egoismus nicht als strenge Gegensätze gesehen werden. Es gilt nicht mehr: Entweder tue ich etwas für mich selbst, oder ich tue etwas für die anderen. Sondern: Wenn ich etwas für andere tue, kommt das häufig auch mir selbst zugute und umgekehrt.
Ein eindrucksvolles Beispiel, was damit gemeint ist, stammt vom US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow. Er beschreibt seine Gedanken, als er mit seiner kleinen Tochter vor einer Schale frischer Erdbeeren sitzt: „Wenn es mir Vergnügen bereitet, Erdbeeren von meiner Hand in den Mund meines geliebten Kindes, das Erdbeeren sehr mag, zu füttern, und wenn ich Freude empfinde, während mein Kind jene Erdbeeren isst, die ich selbst auch gerne gegessen hätte, was soll ich dann über den Egoismus oder die Selbstlosigkeit dieser meiner Handlung sagen? Opfere ich etwas? Bin ich altruistisch? Bin ich egoistisch, denn schließlich bereitet mir das Ganze Freude?“ Egoismus und Altruismus sind in diesem Fall kein Gegensatzpaar mehr, sondern gehen ineinander über.
Das gilt auch fürs Fleischfasten. Es geht dabei nicht um ein zeitlich begrenztes Opfer, für das man sich als Ausgleich zu Ostern eine Extraportion Schinken einverleibt, sondern um echtes Mitgefühl mit der in Tierfabriken und Schlachthöfen gequälten Kreatur. Kein oder zumindest weniger Fleisch zu essen ist aber nicht nur gut für die Tiere, sondern auch für die eigene Gesundheit, die Ernährungssituation der Menschen in der so genannten Dritten Welt und den ökologischen Zustand unseres Planeten.
Kurt Remele
ist Ao. Univ.-Prof. am Institut für Ethik und Gesellschaftslehre der Karl-Franzens-Universität Graz.
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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