Mutworte - Benno Elbs
Wo bist du?

Foto: Pete Ionian

Als Kind habe ich gern und oft Verstecken gespielt. Ob im Haus oder draußen im Freien, überall haben wir Verstecke gefunden, um möglichst lange unentdeckt zu bleiben. War dies gelungen, kam nach einiger Zeit die ungeduldige Frage: „Wo bist du?“
Wo bist du? Das ist in der Bibel die erste Frage, die Gott dem ersten Menschen, Adam, stellt (vgl. Gen 3,9). Nachdem er von der verbotenen Frucht gegessen hatte, hat sich Adam vor Gott versteckt: aus Scham und Furcht. Wo bist du? Hier geht es nicht mehr um ein Spiel, sondern um eine ernstzunehmende Frage, die an die eigene Verantwortung erinnert.
Ich merke es immer wieder: Vor den wichtigen Fragen des Lebens flüchtet man sich gerne in ein Versteck. Wer vor etwas davonläuft, ist orientierungslos. Und man beginnt zu fragen: Wo bin ich? Wo stehe ich in meinem Leben? Und vor wem oder was verstecke ich mich?
Die Fastenzeit kann eine Zeit sein, in der man sich solchen Fragen stellt. Es ist eine Zeit der Suche, der Prüfung, der Entscheidung, des Loslassens, des Wiederaufstehens. Eine Zeit, sich aus dem Versteck herauszuwagen und neuen Mut zu schöpfen. Wer die Augen aufmacht und das eigene Leben in den Blick nimmt, wird vieles entdecken: Schweres, Leichtes, Gelungenes, vertane Chancen, Wut, Freude, Last und Lust.
Wer bist du – jetzt? Meister Eckhart hat einen tröstlichen Gedanken geschrieben: „Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich: Nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist.“

Benno Elbs
ist Bischof der Diözese Feldkirch/Vorarlberg. 
Aus: „Werft eure Zuversicht nicht weg“ Verlag Tyrolia. 

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SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT

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