Positionen - Christian Teissl
Ewiges Rätsel
Zu den vielen aussterbenden Begriffen unserer Sprache gehört das Attribut „wunderlich“.
Krähe, wunderliches Tier,/ willst mich nicht verlassen, heißt es in einem Lied aus Franz Schuberts Winterreise.
Wer diesen von dunklen Ahnungen erfüllten Gesang einmal gehört hat, wird ihn nie vergessen; was aber das Wort vom „wunderlichen Tier“ bedeutet, gerät allmählich in Vergessenheit, ebenso wie das Wort vom „seltsamen Heiligen“. Es steht zu befürchten, dass mit den Worten auch die Dinge verschwinden, die sie bezeichnen, oder jedenfalls der allgemeine Sinn dafür, das Sensorium, und das ist schade.
Denn eines ist gewiss: Wunderliche Tiere, die einen immer wieder aufs Neue das Staunen lehren,
begegnen einem an allen Ecken und Enden der Erde, und auch seltsame Heilige trifft man überall, unverhofft, mitten im Alltag – oder beim Blick in den Spiegel. Sie sind, genau betrachtet, weder seltsam noch heilig, sondern Menschen mit Eigensinn, auf eigenen Wegen; sie wollen nicht verehrt, nur wahrgenommen werden. Sie erinnern uns – und sich selbst – durch ihr bloßes Dasein daran, dass dieses Leben keine logische Summe aus vielen Teilen ist, sondern von der Geburt bis zum Tod ein ewiges Rätsel.
Christian Teissl
teissl@mur.at
Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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