Vor den Vorhang - Interview des Jahrhunderts
Alpenkönig und Menschenfreund

- Hin- und mitreißend im Gespräch: Drei Wochen vor seinem 100. Geburtstag blickt Prälat Leopold Städtler im Interview zurück auf seine Kindheit in Ligist, sein „Bei-den-Menschen-Sein“ als Priester in der Steiermark und auf seine „großen Lieben“ – das Briefmarken-Sammeln und die Berge.
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Leopold Städtler ist 100 Jahre alt. Der Generalvikar, Prälat, Bergsteiger und Briefmarkensammler im Porträt.
Zuerst einmal muss ich es ERleben, und dann muss ich’s auch noch ÜBERleben.“ Etwas schelmisch beantwortet Leopold Städtler die Frage, ob er sich denn freue auf die Feiern zu seinem dreistelligen Geburtstag. Die Dinge auf den Punkt zu bringen und dabei dem Gegenüber ein Schmunzeln abzuringen: Auch dafür wird der hochaltrige Priester geschätzt.
Das Aufnahmegerät läuft, Gesprächsnotizen werden gemacht, und bald ist klar, dass jeder Gedanke, den Leopold Städtler fasst, später verschriftlicht werden müsste. Wenn der Prälat erzählt, ist jedes Wort an seinem Platz. Seine schier ungetrübte Erinnerung malt Bilder im Kopf des Gegenübers, und seine Art, das Leben dankbar anzunehmen, lässt einen Menschenfreund zutage treten, der lustig ist und den Verstand zu nutzen weiß.
Der Glaube: „eini g’watscht“. Wer heute hundert ist, wuchs zwischen zwei Weltkriegen auf, die Narben hinterließen. Da war der Vater, der bald nach Kriegsbeginn beim Fronteinsatz in Galizien einen Ober- und Unterkieferdurchschuss erlitt; ein „einfacher, aber gläubiger Mann“. In Pöllau heiratete er 1917 die Mutter. Beide führen ein Leben, in dem der Glaube wichtig ist. Mit seinem um fünf Jahre älteren Bruder wächst „Poldl“ auf, der Pfarrer rät den Eltern, den „gescheiten Buben, der ministriere und immer pünktlich“ sei, ins Knabenseminar nach Graz zu schicken. Drei Jahre später lassen die Nationalsozialisten das Knabenseminar schließen, im heutigen Akademischen Gymnasium setzt Städtler seine Schulzeit fort. „Wir haben doch nichts getan“, sagt sich der Schüler Leopold, als die Gestapo ihn und seine Freunde festnimmt und verhört. Mit seinen Ministranten-Freunden unternimmt er einen Fahrrad-Ausflug an den Packer Stausee, wird abgefangen und wie die anderen auf der Wachstube geschlagen. Wer unter’m Hitler-Regime gläubig war, der musste mutig sein. „Am Gendarmerieposten von Leoben wurden wir verhört, von dreiviertel neun Uhr früh bis um fünf am Nachmittag.“ Während die Jause in den Rucksäcken lag, wurden die 16 Buben immer wieder danach gefragt, wer diesen Ausflug organisiert habe. „Den ganzen Nachmittag wurden wir gewatscht, gewatscht, gewatscht“, erzählt Leopold Städtler, „... und damit haben sie den Glauben in uns eini gwatscht. Wir dachten uns: Jetzt erst recht.“
Sein Wunsch, Priester zu werden, hatte auch mit dem zu tun, was er im Krieg erleben musste. Das menschenverachtende Regime der Nazis, das auch Halbwüchsige zur Front berief, greift nach ihm noch vor Schulabschluss. Sein Jahrgang musste früher maturieren, um schnellstmöglich an die Front geschickt zu werden. Im Krieg erlebt er, wie Menschen neben ihm von Scharfschützen erschossen werden. Als er ein von den Briten eingenommenes Werk entminen muss, wird neben ihm ein anderer Gefangener zerfetzt. „Da fängst du natürlich an zu denken.“ Die Angst, der Hunger, die Kälte bei bis zu minus 35 Grad: „Leben will ich!“, sagt sich der heimgekehrte Leopold Städtler und schreibt sich auf der Uni ein.

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Das Priesteramt: am Boden bleiben. „Wir Theologiestudenten wollten so schnell wie möglich fertig sein, damit wir schnellstens zu den Leuten kommen.“ Eine Gesellschaft wollte aufgebauten werden im Miteinander, und Faschismus dürfe kein zweites Mal passieren.
Nicht goldbestickte Messgewänder, nicht Salbung oder Weiheformeln machten die Priesterweihe am 2. Juni 1950 im Grazer Dom für ihn besonders. Für Leopold Städtler am einprägsamsten war das „Am-Boden-Liegen“ bei der Allerheiligen-Litanei. „Da wusste ich, was ich zu tun hatte“, sagt er. „Bleib auch als Priester immer am Boden – du bist nicht mehr wert als ein anderer.“ Sein Credo, dass ein Priester nicht alles wissen muss und Laien Verantwortung zugesprochen werden kann, wird durch das Zweite Vatikanum unterstützt: der Gottesdienst auf Deutsch, gehalten vom Volksaltar aus und den Menschen zugewandt.
Die Pastoral: auf Bällen und in Fabriken. Was Leopold mitunter als Kind in Ligist unter einem progressiven Kaplan erfahren hatte, wird ab Mitte der 1960er-Jahre auch kirchenrechtlich möglich. Als Generalvikar ab 1976 unterstützt er dieses „Fensteröffnen“ und „Atemholen“. Er weiht über 30 Volksaltäre und sorgt mit Bischof Weber dafür, dass die ungerechte Begräbnisordnung ersetzt wird durch eine, die jedem Toten gleich viele Kerzen und Gebete zuspricht. Begräbnisse hält er so oft wie möglich selbst, denn: Einen Verstorbenen versehen, das Hören und das Anhören der Angehörigen, das ist für ihn bis heute seelsorglich unverhandelbar. Wenn Menschen ungefragt erzählen würden, sei das ein Geschenk. Und wenn nicht, dann müsse die Kirche eines tun: Weg von der „Sitzpastoral“ und vorbehaltlos zugehen oder mitgehen mit den Menschen, sagt er, der von Großglockner bis Matterhorn oder Mont Blanc unzählige Höhenkilometer gemacht hat. Auf Polizei- und Arbeiterkammerbällen ist er oft das freundliche Gesicht der Kirche; in den Fabriken spricht er gerne mit den Werksmeistern, „weil sie es sind, die gutes Klima machen können unter den Arbeitern, und nicht der Herr Direktor“. Gespür zu haben für einen Menschen, der vor ihm steht – es macht ihm Freude.
Wofür er dankbar ist in seinen 80 Jahren in der Diözese? Für treue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – „die habe ich immer gehabt“. Man müsse jeden Menschen halt in einem ersten Schritt so nehmen, wie er ist, das habe er in Belgien von Arbeiterpriester Joseph Cardijn gelernt. Der wiederum habe nie vom Glauben geredet – nur davon, wie wertvoll jeder und jede Einzelne sei. Und das sei auch die Chance für die Kirche. „Wenn sie den Menschen gegenüber offen ist, kann es gut weitergehen“, davon ist Leopold Städtler überzeugt.
Dank an einen Menschenfreund. Die Kirchturmuhr schlägt, ein besonderes Gespräch neigt sich dem Ende zu. Im Domherrenhaus neben der Grazer Bischofskirche geht es für den Hundertjährigen gleich weiter. In wenigen Minuten wird er den ORF bei sich willkommen heißen und wieder Zeugnis geben von einem langen und erfüllten Leben. Genauso humorvoll und geduldig wird er antworten und durchblicken lassen, dass er noch immer ist, wer er stets war: ein klarer Geist, ein Bergsteiger und einer, der im Menschen zuerst das Gute sieht.
Text: Anna Maria Steiner
Interview: Anna Maria Steiner & Heinz Finster
100 Jahre LEBEN

- Der vierjährige Leopold (r.) anlässlich der Firmung seines Bruders Johannes (l.) am 29. Mai 1929, mit den Eltern Leopold und Maria.
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- Anstecken des Primiz-Sträußchens. Am 2. Juni 1950 wurde Leopold Städtler im Grazer Dom geweiht. „Wir waren 28 Neupriester, zu viele für den Altarraum im Dom.“
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- Geliebte Berge, vielfach bestiegen und dabei den Rosenkranz gebetet.
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- ußball. Leopold Städtler als Mitglied der Altherrenmannschaft der Katholischen Arbeiterjugend (KAJ) beim Pfingstturnier 1957.
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Mit Leopold Städtler feiern:
◉ Samstag, 26. April 2025
10.30 Uhr Philatelistische Feierstunde
9-13 Uhr Briefmarkenschau und Sonderpostamt
Foyer des Priesterseminars, (Bürgergasse 2, Graz)
◉ Sonntag, 27. April 2025
17.00 Uhr Festgottesdienst im Dom zu Graz
TV Tipp
Ostersonntag 19.50 FeierAbend (Religion). Das Geheimnis des Hundertjährigen. Leopold Städtler, ehemaliger Generalvikar der Diözese Graz-Seckau, feiert drei Tage nach dem Ostersonntag seinen 100. Geburtstag. Ein Tag, der den katholischen Prälaten daran erinnert, dass der Tod nicht das Ende, sondern ein Durchgang zu einem neuen Leben ist, „in dem man sich nicht mehr plagen und schinden muss“, wie er sagt. ORF 2






Autor:SONNTAGSBLATT Redaktion aus Steiermark | SONNTAGSBLATT |
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