Neuanfang im Heiligen Land

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Kardinal Pizzaballa mahnt zum Wiederaufbau des Zusammenlebens. Das katholische Oberhaupt von Jerusalem betont dabei die Rolle der religiösen Führer im Konflikt des Nahen Ostens.
Kardinal Pierbattista Pizzaballa, der Lateinische Patriarch – das entspricht etwa einem besonderen Erzbischof – von Jerusalem, hielt kürzlich einen Vortrag an der Theologischen Fakultät der Universität Wien, in dem er sich mit den dringenden Fragen des interreligiösen Zusammenlebens im Heiligen Land nach dem verheerenden Konflikt befasste. Angesichts der verheerenden Auswirkungen des Krieges, der das Heilige Land seit dem 7. Oktober 2023 erschüttert hat, skizzierte der Patriarch einen konkreten Plan für die Zukunft und betonte die Bedeutung des Dialogs zwischen den religiösen Gemeinschaften und der Zusammenarbeit für den Frieden.
Im ersten Teil seines Vortrags erinnerte Pizzaballa an die lange Geschichte des interreligiösen Zusammenlebens im Nahen Osten. Das Heilige Land, Heimat der drei monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – hat seit Jahrhunderten als Wiege religiöser und kultureller Unterschiede gedient. Diese religiösen Traditionen, die ihre Wurzeln tief im Nahen Osten haben, sind stets mit Konflikten, aber auch mit Zeiten des friedlichen Miteinanders verbunden gewesen. Der Patriarch betonte, dass religiöse Zugehörigkeit im Nahen Osten nicht nur den persönlichen Glauben bestimmt, sondern auch eine soziale Identität formt, die das tägliche Leben und die kulturellen Praktiken prägt. Diese religiösen und sozialen Identitäten sind eng miteinander verwoben, was das Verständnis der Dynamiken in der Region erschwert, aber auch Chancen für das Zusammenleben bietet, wenn Dialog und Respekt im Vordergrund stehen.
WENDEPUNKT FÜR DAS ZUSAMMENLEBEN
Der 7. Oktober 2023, ein Tag, der als Wendepunkt für das Heilige Land bezeichnet werden kann, stellte das fragile Gleichgewicht zwischen den verschiedenen religiösen Gemeinschaften auf eine harte Probe. Der Krieg und die damit verbundenen Tragödien haben das Vertrauen zwischen den Menschen im Heiligen Land erschüttert und die interreligiösen Beziehungen stark belastet. Doch Pizzaballa rief dazu auf, nicht den Glauben an eine friedliche Zukunft aufzugeben.
„Der Krieg hat viele Wunden hinterlassen, sowohl physisch als auch emotional“, sagte der Patriarch. „Doch auch in der größten Dunkelheit gibt es Hoffnung. Der Glaube, der in dieser Region wurzelt, kann die Grundlage für den Wiederaufbau und die Heilung bieten.“ Der Patriarch unterstrich die Bedeutung einer gemeinsamen Vision für die Zukunft, die von Gerechtigkeit, Wahrheit, Versöhnung und Vergebung geprägt sein muss.
NEUES DENKENS FÜR DEN FRIEDEN
In seinem Vortrag betonte Pizzaballa, dass es notwendig sei, die sozialen und politischen Strukturen zu überdenken, die den Konflikt im Heiligen Land anheizen. Besonders der Bildungsbereich müsse einen Wandel erfahren, um die nächste Generation zu lehren, dass wahre Sicherheit und Gerechtigkeit nur durch Dialog und Verständnis erreicht werden können.
„Es ist entscheidend, dass wir die nächste Generation nicht in einem Klima der Feindseligkeit und des Misstrauens aufwachsen lassen“, erklärte der Patriarch. „Wir müssen ein Umfeld schaffen, in dem Kinder die Werte des Friedens und des Zusammenlebens lernen und die Vielfalt als Bereicherung sehen.“
SPRACHE ALS WERKZEUG FÜR FRIEDEN
Ein zentraler Punkt in Pizzaballas Rede war die Bedeutung der Sprache. In einem Land, in dem die Worte über Leben und Tod entscheiden können, müsse die Sprache der Versöhnung gefördert werden. „Sprache ist ein mächtiges Werkzeug“, so der Patriarch. „Sie kann Wunden heilen oder sie noch tiefer schlagen. Es ist unsere Verantwortung, Worte zu wählen, die den anderen respektieren und Verständnis schaffen.“
Für Pizzaballa ist es von entscheidender Bedeutung, dass die religiösen Gemeinschaften des Heiligen Landes – Christen, Muslime und Juden – einen gemeinsamen Weg finden, um nach dem Krieg eine neue Grundlage für das Zusammenleben zu schaffen. Dies erfordere Geduld, den Mut zur Veränderung und vor allem die Bereitschaft, den anderen wirklich zuzuhören.
HOFFNUNG TROTZ ALLEM
Pizzaballa appellierte an die internationale Gemeinschaft und an die Gläubigen weltweit, sich nicht von den Gräueln des Krieges entmutigen zu lassen. „Das Heilige Land mag schwer verletzt und verwundet sein, aber wir müssen daran glauben, dass es möglich ist, eine andere Zukunft zu gestalten – eine Zukunft des Friedens und des Zusammenlebens“, sagte der Patriarch. Trotz der tiefen Wunden, die der Konflikt hinterlassen hat, bleibt die Hoffnung, dass der Glaube und der Wille zur Versöhnung eines Tages den Weg für eine gerechtere und friedlichere Zukunft im Heiligen Land ebnen werden.
EIN KONFLIKT, DER AUCH SPIRITUELL IST
Der Krieg im Heiligen Land hat in vielerlei Hinsicht nicht nur das politische und soziale Gefüge zerstört, sondern auch das spirituelle Leben der Gemeinschaften erschüttert. In einer Region, in der der Glaube für das tägliche Leben von zentraler Bedeutung ist, stellt sich die Frage, wie Religion und Spiritualität in einem solch zerstörerischen Konflikt wirken können. Kardinal Pizzaballa, hob hervor, dass in dieser Zeit der Gewalt und Zerstörung die religiösen Führer eine entscheidende Rolle spielen sollten. Doch er betont, dass sie in den letzten Monaten meist im Hintergrund geblieben sind, was zu einem dramatischen Verlust an interreligiösem Dialog und Zusammenarbeit geführt hat.
In der Vergangenheit galt der interreligiöse Dialog als Hoffnungsträger für eine bessere Verständigung zwischen den verschiedenen religiösen Gemeinschaften im Heiligen Land. Dieser Dialog scheint nun jedoch zerrüttet und von Misstrauen geprägt. Religiöse Führer sprechen hauptsächlich innerhalb ihrer eigenen Glaubensgemeinschaften und verlieren so das gemeinsame Ziel aus den Augen: ein friedliches Zusammenleben. Besonders erschütternd ist für Pizzaballa die Beobachtung, dass es trotz der tiefen spirituellen Verwurzelung der Menschen in dieser Region kaum einen Aufruf zu Frieden und Versöhnung von den religiösen Führungspersönlichkeiten gibt. Der Eindruck entsteht, dass sich die religiösen Gemeinschaften mehr auf die Narrative („Deutungsgeschichten“) ihrer eigenen Gruppe konzentrieren als auf den Austausch und das gemeinsame Überwinden der Herausforderungen des Konflikts.
Die Frage, wie religiöse Überzeugungen und Praktiken in einer solch gespaltenen Gesellschaft helfen können, bleibt dabei im Raum. Pizzaballa fordert eine Rückbesinnung auf die prophetische Dimension des Glaubens. Er erinnert daran, dass die Propheten der Bibel nicht nur Trost spendeten, sondern auch herausforderten und Wege aufzeigten, die über die eigenen Grenzen hinausgingen. Der Prophet stand nicht nur für die Wahrheit Gottes, sondern auch für die Wahrheit der Menschen in ihrer jeweiligen Not. In einer Zeit der Dunkelheit und des Schmerzes müsse der Glaube als ein „disruptives Element“ wirken, das zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Realität und zur Hoffnung auf Veränderung anregt. Der Glaube darf nicht zum Werkzeug der Bestätigung bestehender Verhältnisse werden, sondern muss dazu anregen, über die gewohnten Narrative hinauszudenken. Dieser Ansatz einer „prophetischen“ Perspektive könnte auch als ein Aufruf verstanden werden, die Frage nach Verantwortung und Handeln im Angesicht des Krieges neu zu stellen. Es geht nicht nur darum, die eigene Gemeinschaft zu stärken, sondern auch um die Herausforderung, den anderen in seiner Not zu erkennen. Pizzaballa erinnert an den biblischen Aufruf, das Leben zu wählen, auch wenn die Welt um einen herum von Gewalt und Tod geprägt ist. In dieser Wahl liegt die Möglichkeit der Hoffnung, nicht nur für das eigene Volk, sondern für alle Menschen, die unter dem Krieg leiden.
Trotz der schwierigen Lage ruft Pizzaballa zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der Frage, wie der Glaube als Kraft für den Frieden dienen kann. Der interreligiöse Dialog, der in der Vergangenheit bereits von Misstrauen und Entfremdung geprägt war, müsse in einer neuen Form geführt werden, die auf Empathie, Verständnis und Respekt basiert. Der Glaube an Gott sollte nicht dazu führen, den anderen zu verachten, sondern ihn als Teil der gemeinsamen Menschheit zu erkennen.
Abschließend betont der Kardinal die Notwendigkeit, dass religiöse Führer und Gläubige über ihre eigenen Grenzen hinausblicken müssen, um einen echten Dialog des Friedens und der Versöhnung zu führen. Der Weg des interreligiösen Dialogs ist herausfordernd, aber er bleibt der einzige Weg, die tiefen Wunden des Krieges zu heilen und eine Zukunft des respektvollen Miteinanders zu ermöglichen.

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MONOTHEISTISCHE RELIGIONEN
Der Patriarch von Jerusalem war der prominenteste Referent der internationalen Tagung „One God? One Mission? The Significance of the Abrahamic Others Today“ in Wien und im Stift Melk. Ziel der Konferenz war es, die verbindenden Elemente der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam zu reflektieren, ohne Unterschiede zu verwischen. Veranstaltet wurde die Tagung vom Forschungszentrum Religion and Transformation in Contemporary Society (RaT) der Universität Wien, gemeinsam mit der Université de Montréal und der Università Sophia di Loppiano.
www.lpj.org


Autor:martinus Redaktion aus Burgenland | martinus |
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