Demokratie in der Krise?

In vielen westlichen Ländern wächst die Sorge um die Demokratie. 
 | Foto: Christian Ohde/ChromOrange/picturedesk.com
2Bilder
  • In vielen westlichen Ländern wächst die Sorge um die Demokratie.
  • Foto: Christian Ohde/ChromOrange/picturedesk.com
  • hochgeladen von martinus Redaktion

Viele Menschen sorgen sich angesichts der Zunahme einer ausländerfeindlichen und nationalistischen Sprache und Politik in Österreich und anderen EU-Ländern um die Demokratie. Ist diese Sorge Ihrer Meinung nach berechtigt?

Reinhard Heinisch: Das würde ich unterstreichen. Es ist vor allem die liberale Demokratie, wie wir sie im Westen haben, bedroht. Andere Formen sind es deutlich weniger. Ich denke, diese Art der Demokratie war seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie so stark in Gefahr, wie sie es jetzt ist. Das hat damit zu tun, dass sich das Phänomen einer Rückentwicklung von Demokratie nicht nur auf Österreich beschränkt, sondern in vielen Staaten im Westen, besonders in den USA, aber auch in Ungarn, Polen, der Türkei oder Venezuela vorhanden ist. Und wenn das in vielen Ländern gleichzeitig passiert, ist das kein Zufall, sondern es gibt ähnliche Ursachen.

Bevor wir auf die Ursachen zu sprechen kommen – was ist das Fundament einer liberalen Demokratie? Nur Wahlen zu haben, sagen Sie, macht ja noch keine Demokratie aus.

Heinisch: Die grundlegende Idee der liberalen Demokratie ist, dass die Macht der Regierenden begrenzt ist. Das heißt aber, dass auch die Macht des Volkes begrenzt ist, weil in der Demokratie die Regierung den Mehrheitswillen des Volkes vertritt. Wenn ich in Österreich Leute frage, was ist die Demokratie, sagen sie, die Macht geht vom Volk aus. Doch das ist nicht Demokratie, sondern die Tyrannei der Mehrheit. Das Problem ist, wenn ich die Kontrollinstanzen der Demokratie aufhebe, damit quasi das Volk oder die Regierung absolute Macht haben, gibt es keine unabhängige Kontrolle mehr. Beispiel Ungarn: Dort ist es so, dass Korruption und das Bedürfnis, an der Macht zu bleiben, die Regierenden dazu verleitet, das System so zu verändern, dass es unmöglich wird, die tatsächlichen Machthaber zu entfernen. Damit die Demokratie überlebt, braucht es aber eine Begrenzung der Macht der Regierenden, damit die Chance besteht, dass eine Opposition oder eine andere Partei sich so organisieren können, dass sie eine Herausforderung für die Regierung darstellen. Bleiben wir beim Beispiel Ungarn. Wenn dort vor einer Wahl im Fernsehen 16 Stunden lang von der regierenden Partei berichtet wird und wenige Minuten von der Opposition, dann kann keine freie, faire Wahl mehr stattfinden. Es gibt sie zwar, aber aufgrund dieser Struktur weiß man schon im Vorhinein, wie diese Wahl ausgeht. Das hat nichts mit einer liberalen Demokratie zu tun, deren Wesen immer auf den Umstand zurückgeführt werden kann, inwieweit gibt es unabhängige Gerichte, inwieweit steht die Verfassung über der Politik, nicht die Politik über der Verfassung, inwieweit gibt es unabhängige freie Medien etc.

„Damit die Demokratie überlebt, braucht es eine Begrenzung der Macht der Regierenden.“

REINHARD HEINISCH

Was sind nun die Ursachen, dass sich die liberale Demokratie rückentwickelt?

Heinisch: Das ist kompliziert, weil da viele Dinge zusammenspielen. Grundsätzlich kann man sagen: Große Veränderungen weltweit, die auf einer übergelagerten Ebene passieren – nennen wir die Globalisierung, die Modernisierung, den technologischen Wandel – dringen durch auf die Ebene der einzelnen Bürger:innen, die natürlich diese Veränderungen spüren, aber die Ursachen nicht so einfach erkennen. In Folge des gesellschaftlichen Wandels durch eine sich globalisierende Welt kommt es nun u. a. zunehmend zu Migrationsbewegungen, Umweltveränderungen, wirtschaftlichem Wettbewerb, zu einer Flut an Medieninformationen, die es schwer macht, einzuschätzen, was ist wahr, was ist falsch. Auch die Arbeitswelt wird komplexer. Bestimmte Berufe werden aufgewertet, andere erfahren eine soziale Abwertung. Das führt dazu, dass Leute oft auch eine starke Ungleichheit empfinden und sich vor allem vor einem sozialen Abstieg fürchten.

All das verunsichert die Menschen zutiefst und sie wünschen sich von der Politik Antworten, Lösungen oder eine Rückkehr zum Urzustand, wo alles noch sicherer war. Gleichzeitig beeinträchtigen diese Veränderungen aber auch die Autorität der Institutionen. Der Staat, die Regierung, die Parteien sind nicht mehr so einfach in der Lage wie früher, Menschen zu schützen und Antworten zu finden, weil sie teilweise auch selbst von diesen Veränderungen betroffen und dadurch ein bisschen ohnmächtig sind. Das führt zu einer Enttäuschung der Bürger:innen über das System und viele fühlen sich im Stich gelassen, verraten, nicht ernst genommen oder nicht mehr vertreten von der Politik. Und in dieser Situation großer Verunsicherung und Orientierungslosigkeit sind ungefähr 20 bis 30 Prozent der Wahlbevölkerung in Österreich, in den USA und vielen anderen Ländern empfänglich und willens, Parteien zu wählen mit radikalen, populistischen Botschaften. Das ist das Grundproblem in allen westlichen Staaten und trifft in jedem Land auf unterschiedliche Besonderheiten.

Es gibt, wie Sie sagen, neben dem Populismus aber auch einen Antipopulismus. Wie stellt er sich dar?

Heinisch: Laut Forschung sind populistische Parteien auch jene, die am meisten abgelehnt werden – in Österreich und in anderen Ländern. Populisten polarisieren und das führt zu starker Befürwortung auf der einen Seite und auch zu starker Ablehnung auf der anderen Seite. Das ist eine neue Qualität in der Politik, die wir in der Form im Westen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht hatten, dass Parteien selber so stark spalten. In den USA z. B. sind Leute bereit, sogar mit Waffengewalt vorzugehen, entweder um den Populisten zum Durchbruch zu verhelfen oder um sie zu bekämpfen. Das zeigt auch ein bisschen die Gefahr, die in dem aktuellen Prozess schlummert.

Wie kann das demokratische System am besten geschützt, gefördert, gestärkt werden, damit es nicht ausgehebelt wird?

Heinisch: Demokratie ist eine gelebte Praxis und daran fehlt es sowohl im Bereich der Ausbildung als auch im Bereich der politischen Kommunikation. Die Politik muss sich viel mehr überlegen, wie sie Botschaften in eine Sprache übersetzt, die die Leute verstehen. Menschen wollen zudem Politiker, die für sie authentisch und glaubwürdig wirken. Das ist zentral. Auf der anderen Seite ist Bildung und Medienbildung wichtig. Da muss man in der Schule ansetzen und eine Demokratiebildung betreiben, die nicht nur darin besteht, die Abgeordneten auswendig zu lernen, sondern darin, den Menschen zu vermitteln: wie schreibe ich eine Petition, wie organisiere ich eine Bürgerinitiative. Oder man bringt Schüler:innen mittels Demokratiespielen bei, wie sie z. B. im Falle einer Flüchtlingssituation vorgehen: Was kann ich machen? Wer fürchtet sich? Welche Gruppen sind besonders betroffen? Wen muss ich informieren? Können Flüchtlinge in einem Dorf aufgenommen werden oder nicht?

Was kann jeder Einzelne zu einer möglichst funktionierenden Demokratie beitragen?

Heinisch: Ich denke, jeder von uns kann verschiedene Aussagen von Politikern und Politikerinnen durchdenken, hinterfragen und sie skeptischer betrachten, wenn etwa sehr einfache Lösungen für komplexe Probleme vorgeschlagen werden und ob die auch praktisch funktionieren könnten. Das ist z. B. die Gefahr beim Thema Migration, denn in diesem Bereich gibt es keine einfachen Lösungen, keine Patentrezepte. Hier wird von den Volksvertretern aber oft das Gegenteil suggeriert. Ein kleines Land wie Österreich kann aber die Immigrationssituation nicht alleine lösen. Was wir brauchen wäre Gemeinsamkeit und einen möglichst rationalen Umgang mit diesem globalen Problem. Das geht nur, wenn Europa stark und geschlossen ist, um international machtvoll auftreten zu können, damit sie Ländern z. B. in Afrika ihre Vorstellungen näherbringen können.

Sie haben die Glaubwürdigkeit als zentralen Punkt angesprochen. Sie steht auch in Verbindung mit Wahrheit, oder?

Heinisch: Ich glaube, wichtig ist generell, dass wir hohe moralische und ethische Standards anwenden – in der Politik, aber ebenso in unseren Erwartungen. Natürlich müssen wir Politiker auch daran messen, ob sie die Wahrheit sagen. Demokratie hat viel mit Wahrheit zu tun. Diktaturen manipulieren und lügen. Doch Demokratie ist nicht überlegen, weil die Menschen in ihr besser sind, sondern weil das System Kontrollen und Aufklärungsmechanismen bietet, die die Diktatur nicht hat – einen unabhängigen Rechnungshof, Untersuchungsausschüsse, freie Medien, die auch etwas sagen, was die Politik nicht möchte. Ich sehe es sehr positiv, dass Österreich in der Lage war, einen Untersuchungsprozess gegen einen populären und mächtigen Kanzler zu starten, der so in Ungarn oder Polen nicht denkbar gewesen wäre. Ähnlich sehe ich das beim Strafprozessverfahren gegen Donald Trump. Das heißt, hier funktioniert etwas, was in der Form weder in der Türkei, noch in Russland, noch in Venezuela und in vielen anderen Ländern möglich wäre. Das ist ein qualitativer Unterschied. An dem müssen wir festhalten, sonst gibt es die Demokratie in dem Sinne nicht mehr.

SUSANNE HUBER

In vielen westlichen Ländern wächst die Sorge um die Demokratie. 
 | Foto: Christian Ohde/ChromOrange/picturedesk.com
Reinhard Heinisch ist Politikwissenschafter und Universitätsprofessor für Österreichische Politik in vergleichender europäischer Perspektive an der Paris Lodron Universität Salzburg.  | Foto: privat
Autor:

martinus Redaktion aus Burgenland | martinus

Kommentare

online discussion

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

add_content

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.

Powered by PEIQ