Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 17
Abbé Pierre

Menschenbrüder

Jesus lehrte nichts als Nächstenliebe. In dem Maß, in dem ich mich bemühte, seine Botschaft zu praktizieren, habe ich mich ein Leben lang zu lieben bemüht. Ich hätte diesen Weg in einer Mönchsgemeinschaft gehen können, wie ich es anfänglich versucht habe. Doch Gottes Vorsehung hatte anderes beschlossen und zog meinen Lebensfaden aus dem Nadelöhr. Ich wurde aus dem Kloster entführt zu einem Apos­tolat als Krankenhausseelsorger in den Bergen, dann als Domkaplan, um mich endlich völlig in die übergroße Not der Obdachlosen und der aus verschiedensten Gründen aus der etablierten Gesellschaft Verbannten hineinzubegeben.

Dieses lange Leben zusammen mit am meis­ten am Leben leidenden und gestrandeten Exis­tenzen hat mich nicht bloß verstehen gelehrt, in welchem Maß Bruderliebe das Herzstück jeder sich christlich nennenden Existenz zu bilden hat, sondern auch, dass Solidarität gegen Verelendung und Ungerechtigkeit für jeden Menschen die entscheidende Wahl seiner Menschlichkeit darstellt. Derjenige, der sich tüchtig dafür engagiert, gibt seinem Leben damit Sinn, und dies macht ihn zu einem vollwertigen Partner im Aufbau der Gottesherrschaft.

Wir alle verfolgen ja dasselbe Ziel: das Glück im Leben. Die Frage ist nur die Wahl der Mittel, in welcher Kultur, in welchem Milieu oder in welcher Epoche wir auch immer leben. Jeder Mensch sieht sich genötigt, zwischen zwei Wegen zu wählen: entweder ohne den Nächs­ten nur nach seinem eigenen Glück zu jagen, oder zusammen und mit den anderen glücklich zu werden, ein bloß selbstbezogener Egoist oder aber ein mit anderen solidarischer Gemeinschaftsmensch zu sein. Diese Wahl, die jeden Morgen getroffen wird, ist die allerwich­tigs­te, denn sie entscheidet darüber, worin unser Leben besteht. Sie ist jene, die unser Menschsein formt.

Sich dafür zu entscheiden, sich selbst zu genügen, heißt, sich selbst, ohne alle Rücksicht auf die Bedürfnisse, die Leiden und die Nöte anderer, zu verwirklichen. Damit macht man sich zu allem fähig: zu vernichten, auszuplündern, auszubeuten, die anderen zu negieren, nur um zu seinem eigenen Ziel zu kommen. Furcht vor Gesetz und Bestrafung mag ja oft an der Ausführung dieses Zweckes hindern, doch in der Tiefe des Herzens bleibt solche Wahl getroffen. Der andere Weg ist jedoch der eines solidarischen Menschen, der sich selber realisiert zusammen mit und durch die Nächsten, im wachen Hören auf deren Nöte und Bedürfnisse. Daran entscheidet sich die Qualität eines jeden als Mensch. Das heißt, sein Glück zu finden im Teilen der Freuden und Leiden der Nächsten, ob man an Gott und seinen Jesus glaubt oder nicht.

Am Beginn der Emmaus-Bewegung kam einst ein betagter belgischer Priester, der das Leben einer unserer Gemeinschaften teilte, um sieben Uhr morgens zu mir: „Père, das muss ich Ihnen erzählen. Heute Nacht klopft es an die Haustür, und einer unserer Gefährten öffnet. Da steht der städtische Polizeikommissar. Glücklicherweise erkennt er den Gefährten nicht. Der hatte eben einige Tage wegen Trunkenheit in der Arrestzelle des Kommissars verbracht. ‚Monsieur‘, sagt der Kommissar, ‚da kommt eine Mutter mit vier Kleinen auf den Polizeiposten geflüchtet. Ihr Gatte tobe und er drohe sie zusammen mit den Kindern zu ermorden. Ich habe vergebens nach einer Unterkunft gesucht, denn man kann sie nicht auf dem Posten lassen. Da kommt mir euer Haus in den Sinn.‘ Ohne Zögern sagt der Kamerad: ‚Herr Kommissar, her mit ihnen!‘ Er weckt seine Kameraden im Schlafraum. Die Typen stehen auf, machen ihre Betten mit frischer Wäsche bereit, bringen Mama und die Kleinen unter und vergraben sich selber in Berge von Altpapier für den Rest der Nacht (es war mitten im Winter). Am Morgen schlürften sie ihren Kaffee und flüsterten einander zu: ‚Halt’s Maul, die Kleinen wollen schlafen!‘“
Das berichtete mir der Pfarrer und fügte hinzu: „Père, welches Kloster hätte so gehandelt?“

Diese Wahl ist eine völlig persönliche, aber da gibt es auch Gemeinschaftsentscheidungen. Wollen wir eine solidarische Gesellschaft, die sich vor allem um ihre schwächsten und notleidenden Glieder kümmert, oder im Gegenteil eine egoistische, die die Schwächeren bedrückt oder sie am Straßenrand liegen lässt? Im ersten Fall kämpfen wir alle zusammen mit aller Kraft am Ausgleich unserer sozialen Unterschiede und bauen damit einen dauerhaften sozialen Frieden auf. Im zweiten Fall jedoch lassen wir zu, dass die sozialen Klüfte ständig größer werden, und wir werden damit nur wachsenden sozialen Zorn ernten. Ist das nicht genau der Weg, zu dem sich heute unsere reicheren Nationen entschlossen haben?

Hören wir nicht auf, das aller Welt laut und deutlich zu sagen! Es ist doch das größte Paradox, dass das einzige Mittel zu sozialem Ausgleich und Frieden ein unerbittlicher Kampf gegen das Elend der Massen, die Arbeitslosigkeit, die Korruption und den Rassismus ist. Keiner darf sich mehr gleichgültig verhalten, denn wenn er das tut, macht er sich zum Komplizen. Ein jeder muss rebellieren, wenn Kleinkinder hungern, Familien kein Obdach finden oder die Jugend keine Hoffnung auf anständige Arbeit hat. Ohne gebührenden Zorn und neue Ini­tiativen, nach denen sie rufen – welche Hoffnung auf sozialen Frieden bleibt ihnen da?

Und das gilt natürlich genauso für den Weltfrieden. Internationaler Terrorismus und bewaffnete Konflikte gehen heute zum Großteil auf die wachsende Verelendung der Massen und die ständig größere Ungleichheit zwischen Nationen und Regionen des Planeten zurück. Der islamische Terror rekrutiert doch seine Anhänger nicht in den Villenvierteln Algiers, Kairos oder von Paris, sondern in den dortigen Elendsvierteln, in denen sie hausen, wo Not und Hoffnungslosigkeit und Überbevölkerung täglich wachsen.

Autor:

Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt

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