Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 16
Abbé Pierre
Als ich zur Präsentation unseres Films Winter 1954 nach Brasilien kam, wurde mir Gelegenheit geboten, mich im Fernsehen Millionen von Zuschauern vorzustellen. Das war gerade während der Schulferien. Ich wandte mich besonders an die Jugend der wohlhabenderen Familien und sagte ihnen: „Ihr könnt es euch leisten, im Urlaub nach Europa zu fliegen, euch in besseren Hotels und an privaten Badestränden usw. zu erholen. Habt ihr euch auch je die Frage gestellt: Woher kommt denn unser Vermögen? Wer hat es erwirkt? Wo kommt es denn her? Es ist doch meist das Resultat fürchterlicher Massaker. Wer in eurer Geschichte am meisten Indios schlachtete, erhielt von der Krone zur Belohnung eine ganze Provinz. Und doch genießen heutzutage eure Eltern euren hohen Lebensstandard – nur um den Preis von welch großer Ungerechtigkeit?“
Neben einigen marxistischen Befreiungstheologen, die der Vatikan zu Recht verurteilt hat, gibt es Gott sei Dank auch andere, für die aus wahrhaft christlicher Motivation die unverzichtbare Verbindung von Gerechtigkeit und Liebe nie in Frage stand.
Doch ich meine, wir müssen noch viel tiefer gehen. Die eigentliche Befreiung, die uns Christus gebracht hat, ist eine viel grundsätzlichere. Sie geht ans Herz jedes Individuums und betrifft nicht nur die Gesellschaft. Das ist die Befreiung von dem, was „Sünde“ heißt. Dieses Wort ist heutzutage leider schwer belastet von einem moralisierenden und Schuldbewusstsein erzeugenden Sprachgebrauch, der es zu einer fast unbrauchbaren Vokabel gemacht hat. Und dennoch ist Sünde eine grundlegende Realität, die es richtig zu begreifen gilt. Die Bibel zeigt das eigentliche Wesen von Sünde in der mythischen Genesiserzählung, die man selbstverständlich heute nicht mehr im überholten Wortsinn als historisches Geschehnis verstehen darf, was ja nur Gelächter hervorruft. Diese Erzählung vermittelt Einsicht in tiefste philosophische und psychologische Wirklichkeiten. Sie behauptet, dass das Wesen der Ursünde in Ungehorsam und Widerspruch gegen die gottgegebene Ordnung bestehe: „Du sollst nicht essen vom Baum der Unterscheidung von Gut und Böse.“ Das heißt doch: Versuche nicht, dich jenseits des Unterschieds von Gott und Mensch zu wähnen, sodass du Gut und Böse nicht mehr zu scheiden vermagst.
Sünde besteht in der Absicht, nicht mehr von Gott abhängig sein zu wollen und darauf zu bestehen, unser eigenes Geschick durch grenzenlose Selbstverwirklichung bestimmen zu wollen, ohne jegliche göttliche Hilfe. Das heißt, sich mit seiner eigenen Kategorie von Gut und Böse, „jenseits von Gut und Böse“, sein Heil zu schaffen, ohne jeglichen Bezug zur Herrschaft Gottes.
Solche Urwahrheit von Sünde besteht nicht in geschlechtlicher Lust, wie man dummerweise immer wieder hört. Es ist der menschliche Stolz gegenüber Gott, seinem Schöpfer. „Ich will mir nicht von Gott etwas vorschreiben lassen, ich genüge mir selbst, ich brauche weder Hilfe noch Retter noch Erlöser, denn ich mache Gebrauch von meiner Freiheit, um zu tun, was immer mir gefällt, und darüber bin ich niemandem Rechenschaft schuldig.“
Von diesem Moment an schlägt ein Kain seinen Bruder Abel tot, der Stärkere den Schwächeren, „survival of the fittest“. Kurz, die ganze Menschheitsgeschichte mit ihrer endlosen Kette von Verbrechen, Gewalttat, Unrecht usw. zieht an unserem inneren Auge vorbei.
Weshalb? Weil wir freiwillig unsere Verbindung zu Gott abgeschnitten haben, haben wir damit unseren Sinn für echte Freiheit gegen Willkür eingetauscht. Wir vergessen, dass der ganze Zweck unserer Freiheit nur im Dienst der Liebe besteht. Heil und Befreiung, die uns Christus vermittelt, dienen dazu, uns des wahren Charakters unserer Freiheit bewusst zu werden. Sie machen uns auch frei von der Furcht vor der unberechenbaren Willkür des Nächsten. Wir fürchten ja ständig, von ihm angegriffen oder vergewaltigt oder ermordet zu werden. Das Heil Christi fegt solche Furcht hinweg und ersetzt sie durch Vertrauen und Liebe. Die eigentliche Befreiung ist also eine innere.
Dom Hélder Câmara verstand dies ausgezeichnet, als er schrieb: „Wenn wir von Befreiung von äußeren Gewalten reden, die uns bedrängen, sollten wir uns immer vergegenwärtigen, dass wir selbst mit unserer inneren Befreiung beginnen müssen. Wie kann einer, der Sklave seiner selbst ist, andere zu befreien versuchen? Er kann das nur, wenn er zuerst sich selber frei gemacht hat. Frei ist nur, wer sich freiwillig beherrscht, um richtiger, persönlicher und gemeinsamer Regulierung Folge zu leisten.“
Wir sind wahrhaft empört über wirtschaftliche, soziale und politische Unterdrückung, doch wir weigern uns, den täglichen harten Kampf für unsere eigene innere Befreiung zu bestehen. Umgekehrt haben wir uns zuweilen zwar um unsere eigene Bekehrung bemüht, doch bilden wir uns deshalb etwas auf unsere „Tugendhaftigkeit“ ein und werden damit blind für den Zorn der Liebe gegen die Ungerechtigkeiten, unter denen unsere Brüder und Schwestern schmachten. Auf einem Planeten, der zwar von vielerlei Ressourcen überfließt, doch auf dem die Mehrheit seiner Bewohner nicht einmal das Existenzminimum erreicht, sind die eigentlichen Weltmeister der Freiheit jene, die diesen Planeten der Hand derer entreißen, die die Liebe verweigern. Dem westlichen Menschen tut heute nichts mehr Not, als diesen wahren Sinn der Freiheit wiederzuentdecken. (…)
Fortsetzung folgt
Autor:Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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