Memoiren eines unbeugsamen Christen, Folge 15
Abbé Pierre
Natürlich hatte dieser Bischof völlig recht: Alphabetisierung macht die Leute aufgeweckter, da werden sie sich ihrer Menschenrechte bewusst, werden selbstständiger und damit von Machthabern weniger manipulierbar. Was nutzt es, die Völker zu evangelisieren, wenn man ihnen nicht zu besserer Bildung verhilft? Was nutzt es, ihnen das Wort zu verkünden, wenn sie unfähig sind, es selber zu lesen und sich anzueignen? Was dieser Bischof fürchtete, war, dass die Armen die vielen Seiten des Evangeliums entdecken könnten, die Ungerechtigkeit verdammen und die Menschen zum Teilen und zur Solidarität aufrufen. Deshalb hat das Evangelium, obgleich es keine direkte politische Botschaft enthält, zwangsläufig seine Konsequenzen und mächtige Auswirkungen auf dem Feld der Politik. Das ist genau der Grund, weshalb im Verlauf der Geschichte die wohlhabenden Machthaber sich ständig den Klerus hörig zu machen versuchten, damit er gewisse Seiten des Evangeliums unterschlage und nicht bekanntgebe!
In einem völlig anderen Zusammenhang war ich einige Jahre zuvor von Kardinal Léger nach Kanada eingeladen worden. Er hatte mich gebeten, bei einem Bankett, das von katholischen Unternehmern und Sozialarbeitern seiner Diözese organisiert worden war, über das Problem der von der Gesellschaft Ausgegrenzten zu sprechen. Ich war empört, als ich den Luxus sah, in dem ein Teil des kanadischen Klerus lebt, und als ich die Prälaten in ihren stolzen Limousinen anrücken sah. Ich erklärte jenen, die gekommen waren, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen: „Glauben Sie nicht auch, dass ein Teil des Elends der Menschheit und der Kirche der Schlauheit zu verdanken ist, mit der wohlhabende Gläubige es verstehen, ihren Klerus mit ihrem eigenen luxuriösen Lebensstandard zu verwöhnen, um zu garantieren, dass ganze Teile der Frohbotschaft unterschlagen und nie gepredigt werden?“ Eisiges Schweigen war die Antwort. Dann kam zögerliches Händeklatschen von einer Schar jüngerer Mitglieder der Katholischen Arbeiterjugend und breitete sich allmählich über einen Teil des Publikums aus.
Ein Jahr darauf gestand mir der Kardinal: „Das Nachbeben Ihrer Intervention in meiner Diözese war die grausamste Prüfung, die ich in meinem ganzen Priesterleben durchzustehen hatte. Doch geben Sie nicht auf, das Evangelium auf Ihre Art auszulegen!“
Dreißig Jahre später wurde ich noch einmal von Légers Nachfolger eingeladen. Ich nahm an einer Versammlung von dreißig katholischen Großunternehmern teil. Nach der Messe wurde ich in ein unglaublich luxuriöses Restaurant geladen, und man bat mich um das Tischgebet. Da wagte ich zu sagen: „Sind Sie sich des Widerspruchs bewusst? Soeben kommen wir vom eucharistischen Kommunionempfang. Am Gründonnerstagabend nach der Einsetzung dieses Festes ging Jesus hin, um im Garten von Getsemani seinen Todeskampf zu bestehen. Doch Sie laden mich ein zu diesem pompösen Gelage mit livriertem Personal, goldenen Leuchtern und einem Menü, das für drei Tage reichen dürfte. Ihre Versammlung, in der ich im Übrigen keinen Gewerkschaftsvertreter entdecken konnte (die sind doch auch ihre Mitunternehmer), wäre meiner Meinung nach eher mit der Eucharistie Jesu im Einklang, wenn wir uns mit einem Teller Suppe und zwei Sardinen begnügen würden.“ Diesmal gab es keinerlei Applaus.
Die christliche Botschaft hat notwendigerweise politische und soziale Konsequenzen. Doch umgekehrt besteht das Risiko, dass man den Nachdruck einzig auf diese Dimension legt und vergisst, dass der Zweck des Christentums vor allem ein spiritueller ist. Solches Vergessen kann eine Befreiungstheologie hervorrufen, wie man sie in Lateinamerika kennt. Als Karikatur hat sie sich dort leider zuweilen als hilfreicher Arm des Marxismus gebärdet. Das ausschließliche Ziel wurde eine politische Befreiung, die alle, selbst gewalttätige Mittel rechtfertigte.
Persönlich habe ich ebenso wenig wie Dom Hélder je eine solche Interpretation und einen solchen Missbrauch der Botschaft Christi unterstützt. Für einen gläubigen Christen kann wirtschaftliche und politische Befreiung nie zu einem Selbstzweck werden, den man mit jedem nur möglichen Mittel betreibt. Wahre Befreiungstheologie ist die Befreiung von Ungerechtigkeit durch eine mächtigere Liebe. Diese zwei Realitäten darf man nie voneinander trennen. Das ist die Botschaft von Câmara, Martin Luther King und Mandela, auch von Nichtchristen wie Gandhi oder des Dalai Lama. Gewalt erzeugt nur Gegengewalt, und hat man sich von Tyrannei befreit, werden die Befreiten ihrerseits zu neuen Tyrannen. Der Kollaps des europäischen Marxismus, der ja erst vor Kurzem eingetreten ist, ist ein erschreckender Beweis dafür.
Das ist natürlich eine schwierige und anspruchsvolle Aufgabe für die Unterdrückten. Ich erinnere mich, wie man vor zwanzig Jahren in Brasilien noch Hetzjagden auf Indios organisierte, als ob sie bloß Wild wären. Da muss man doch den Zorn jener verstehen, die sich so verachtet und massakriert sahen. In solchen Situationen kann sich doch der Priester nicht als Polizist im Dienst von Diktatoren missbrauchen lassen. Doch ebenso wenig kann er sich zum blutrünstigen Rächer der Verfolgten machen. Er muss die Unterdrückten ihre eigene Würde fühlen lassen und den Befreiungskampf mit so wenig Gewalttätigkeit wie möglich zu führen lehren. Er muss als Hauptaufgabe auch versuchen, die Ausbeuter zur Einsicht zu führen, und alles tun, um ihr Gewissen wachzurütteln. Fortsetzung folgt
Autor:Kirche bunt Redaktion aus Niederösterreich | Kirche bunt |
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